Bilder abfotografiert aus Schriften zur Geschichte: „Besinnung und Aufbruch“ und „Die Dorper Kirche“
Liebe Gemeinde!
Siehe, ich mache alles neu. Sagt Gott.
Und er will die Tränen abwischen, alle Tränen.
Auch die vor 80 Jahren geweinten Tränen.
Auch die nicht geweinten, die Tränen, die nicht kamen, weil das Entsetzen und das Leiden so groß waren, dass man nicht mal mehr weinen konnte.
Solingen lag in Schutt und Asche nach zwei heftigen Angriffen. November 1944.
Wer heute über 80 ist, hat damals schon gelebt. Wer über 85 ist, hat vielleicht eigene Erinnerungen an diese Zeit, an die zerstörte Stadt.
Wer jünger und hier aufgewachsen ist, hat davon gehört, von Eltern, Großeltern, Verwandten, Nachbarn. Hat alte Fotos gesehen: Ach, da stand ein Haus, und die Straße verlief früher so, anders als jetzt, und diese Kreuzung sah ganz anders aus.
Diese letzten Monate des zweiten Weltkriegs, von denen man Ende 1944 noch nicht wusste, dass es die letzten waren, die liegen 80 Jahre zurück.
Ein Menschenleben, ein langes Menschenleben – die Bibel sagt im Psalm, unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn´s hoch kommt, so sind´s achtzig Jahre – ist das alles jetzt her.
Aber es ist noch nicht ganz und gar Vergangenheit. Es hat noch mit uns zu tun, heute, in Erinnerung und Überlieferung, in den Folgen und durch das, was dann aus dem Trümmerfeld wurde.
Die neu aufgebaute Stadt.
Die neu aufgebaute Stadt, das neu aufgebaute Land, die neu aufgebaute Gesellschaft, demokratisch, sozial, offen und gezeichnet von dem Schrecken der Nazi-Zeit und des Krieges. Zwei Schrecken, die zusammenhingen und doch nicht dieselben waren. War die neue Zeit nach diesen beiden Schrecken das Neue, das Gott versprochen hat?
Nein, das Neue, was wir gebaut haben, ist nicht das Neue, das Gott versprochen hat – und doch gibt es Zusammenhänge, dadurch, dass in unseren Neubauten die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit und Versöhnung steckte. Diese Sehnsucht steckte in den Steinen, die neue Häuser bauten; im Grundgesetz, das neues Recht setzte; in den Schulen, die neue Lehrpläne bekamen; in den Parks, in die neue Bäume gepflanzt wurden; überall steckte diese Sehnsucht drin nach Frieden und Gerechtigkeit und Versöhnung.
Aber eben auch eine andere, die nach Vergessen, nach Vertuschen, nach einer Stunde Null, die Schuld verbarg und die Opfer verdrängte und Leid nicht heilte. Das Neue, was wir bauten, war nicht so aufrichtig wie das Neue, das Gott schaffen will und das Schluss macht mit allen Tränen.
Bei uns war zu viel Altes im Neuen. Das müssen wir endlich einräumen. Gerade bei der Erinnerung an die Bombenangriffe. Denn so schlimm diese Angriffe waren, sie dienten der Verteidigung gegen die Ausbreitung der Nazi-Diktatur in Europa und der Befreiung davon, und sie trafen Schuldige genauso wie Mitläufer:innen wie Unschuldige. Das macht ihr Leid nicht kleiner und unsere Erinnerung nicht herzlos, aber so sehr die ganze Bevölkerung an den Schrecken des Krieges litt, so sehr waren viele beteiligt an den Schrecken der Naziherrschaft oder haben zumindest zu wenig dagegen getan. Und als der Schrecken des Krieges vorbei war, versteckten sich die Schrecklichen der Naziherrschaft in den Neubauten vor allem von Verwaltung und Justiz.
So war in diesem Neuen viel Altes.
Aber eben trotz Altem auch viel Neues. Eine Demokratie, die die Menschen wollten und mochten, anders als die frühere. Eine stabile soziale Unterstützung, die den Überlebenden und den Kriegskindern ins Leben half. Wachsende Gleichberechtigung für Frauen und Bildungschancen für Arbeiterkinder.
Die Bundesrepublik hat dem Alten viel Neues abgetrotzt, und schließlich die 68er und die 89er hervorgebracht, von denen die einen die Reste des Alten enttarnten und seine Autorität entzauberten und von denen die anderen die einzige friedliche Revolution in Deutschland hinkriegten. Gemeinsam machten sie ordentlich Wind und bliesen den alten, dicken Staub und Muff weg. Sie machten Platz für Neues, wieder Neues, in dem etwas von der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Freiheit und Offenheit lebte, von der Sehnsucht, die zusammenhängt mit dem Neuen, das Gott versprochen hat.
Aber auch sie mussten einsehen, dass Altes blieb und weiterwirkte und dass eben Menschen nicht alles neu machen können und dass es eben auch immer welche gibt, die das gar nicht wollen. Und dass nicht alles Alte schlecht und alles Neue gut ist. Was wir ja selber gut genug wissen.
Und so werden immer noch und immer wieder Tränen geweint, und wer abends Nachrichten guckt oder Zeitungen liest, weiß nur zu gut, dass Schuld und Unschuld und Mitläufertum nicht eindeutig wie schwarz und weiß zu unterscheiden sind und dass Leid und Unrecht und Zerstörung wie früher alle treffen, auch die, die nichts getan haben, dass Krieg eben Gerechte trifft und Ungerechte und es niemals gelingt, das zivile und private Leben zu verschonen.
Und heute, während wir hier sitzen, passiert in Israel, in Gaza, im Libanon und in der Ukraine wieder dieses furchtbare zerstörende Unrecht, das Menschen tötet, Kinder zu Waisen macht und Familien zu Obdachlosen. Und wieder fliehen die Ausgebombten in die Randgebiete, wenn es welche gibt, oder in die Nachbarländer, wenn die Grenzen offen sind, und wieder werden Tränen geweint, Herzen verbittert und Lebenshoffnungen begraben und wieder beginnt, was in 80 Jahren nicht vorbei sein wird, weil dann welche leben werden, die jetzt ganz jung sind, und sie werden den Geruch der Brandbomben und der Angst in ihren Alpträumen wieder riechen und auch sie werden als Überlebende aufgebaut haben, was zu viel von altem Hass enthält, weil es eben nicht anders möglich ist unter Menschen. Weil Gott seine Verheißung noch nicht erfüllt hat. Noch nicht ganz.
Aber sie bleibt, diese Verheißung Gottes, dass alles neu geschaffen werden soll und das Versprechen bleibt auch, dass alle Tränen abgewischt werden.
Und um dieser Verheißung und um dieses Versprechens willen erinnern wir an die Toten der Zerstörung Solingens, weil das auch für sie gilt, dass sie neu werden und getröstet.
Um dieser Verheißung und um dieses Versprechens willen können wir ehrlich aussprechen, wie verquickt Schuld und Leid in diesen Novembertagen 1944 waren, so verquickt, dass mitten in der noch brennenden Stadt gefangene alliierte Piloten ermordet wurden.
Um dieser Verheißung und um dieses Versprechens willen halten wir fest an der Sehnsucht nach dem Neuen Gottes und versuchen, etwas davon schon jetzt wirklich zu machen in unserer Gesellschaft, indem wir das Engagement für Frieden und Versöhnung und Gerechtigkeit niemals aufgeben, indem wir mit Tränen in den Augen immer wieder anfangen zu trösten und zu reden und indem wir nicht vergessen und niemanden verloren geben.
Diese Verheißung und dieses Versprechen haben geholfen in den Tagen nach dem Terroranschlag auf dem Fronhof, der das Festival der Vielfalt zerstörte und, viel schlimmer, drei Menschen das Leben kostete und noch mehr die Gesundheit.
Diese Verheißung und dieses Versprechen haben geholfen, im März die durch den Brandanschlag auf der Grünewalder Straße getötete junge Familie zu betrauern und sie haben geholfen, aus dem grauenhaften rassistischen Brandanschlag auf das Haus der Gencs mit den Jahren einen Anlass gemeinsamer Trauer und Erinnerung werden zu lassen.
Und ein letztes: diese Verheißung Gottes, alles neu zu machen, und Gottes Versprechen, alle Tränen abzuwischen von den Augen aller, die weinen, macht es möglich, an alles Leid zu erinnern und doch nicht alles in einen Topf zu werfen und eben jede Lebensgeschichte und das, was sie zerstört oder verformt hat, individuell zu sehen und zu erinnern.
Wenn Gott alle Tränen abwischen will, ist das das Gegenteil von Schwamm drüber oder anderen flapsigen Sprüchen. Es bedeutet die liebevolle Zuwendung zu allen Einzelnen. Wir könnten das nicht, wir vergessen immer jemanden und wir leben nicht lange genug, um uns allen zuwenden zu können, auch wenn wir achtzig Jahre und mehr alt sind oder werden.
Aber wir müssen das auch nicht tun.
Gott wird es tun.
Aber wir, wir sollen tun, was wir können, um zu erinnern und die Geschichten zu hören und wertzuschätzen und mithelfen, zu trösten und wieder lachen zu machen.
Das sollen wir tun.
Weil wir aus unserer Geschichte unserer zerstörten Stadt wissen, wie furchtbar weh es tut, wenn die Heimat kaputt geht.
Gott wird alles neu machen, das hat er versprochen.
Und wir können jetzt schon viel von Gottes Neuem in unsere Geschichte bauen. Damit die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit groß wird und stark.
Amen.