Gegen das Vergessen – Ansprache zum Gedenken an die Pogromnacht 1938

Liebe Anwesende!

Wie in jedem Jahr stehen wir heute hier auf dem Schulhof am Ort der Solinger Synagoge, die 1938 in Flammen aufging. Wie in jedem Jahr stehen wir hier und erinnern an die grauenhaften Pogrome und den Massenmord an Juden und Jüdinnen in der Zeit des Nationalsozialismus. Wie in jedem Jahr sagen wir, und wir sagen es mit Ernst, so etwas darf nie wieder geschehen.

Und mit jedem Jahr spüren wir stärker: Nie wieder ist jetzt! Antisemitismus nimmt immer mehr zu. Wie bei der Hetzjagd auf israelische Fußballfans vorgestern in Amsterdam. Verbale Diskriminierung, gewalttätige Übergriffe gegen Personen, Synagogen und andere Einrichtungen greifen um sich, seit Jahren und noch einmal mehr seit dem 7. Oktober 2023. Da überfiel die Hamas ein jüdisches Festival und Kibbuzim und massakrierte jüdische Menschen, so viele, wie seit der Shoa nicht mehr an einem Tag ermordet wurden. Da wurden jüdische Menschen Opfer brutaler Gewalt – und in der Welt wächst der Antisemitismus!

Wie bizarr! Wie grauenhaft! Wie ungerecht!

Die meisten von uns sind damit groß geworden, als deutsche Menschen oder Menschen in Deutschland Verantwortung zu übernehmen für die Greueltaten Nazi-Deutschlands, eine Verantwortung, die mit dem Sterben der letzten Überlebenden und Anverwandten der Opfer und Zeitzeug:innen nicht endet, weil sie in der Überzeugung von der Würde jedes Menschen wurzelt. Viele von uns gehen da, wo sie leben und arbeiten, gegen Antisemitismus an, mutig und konsequent und seit vielen Jahren. Und müssen mehr und mehr einsehen, wie wenig gelingt und wie die Gesellschaft hier nach rechts driftet und wie im Zuge dieser Drift rassistische und antisemitische Parolen wieder laut werden, die die Würde von Menschen und Menschengruppen mit Füssen treten und die Stimmung so aufheizen, dass Juden und Jüdinnen Angst bekommen und bezweifeln, dass jüdisches Leben in Deutschland wirklich gewünscht ist.

Wer kann auf diese zweifelnde Frage eine Antwort geben? Wir würden es gern und doch bleibt sie uns im Halse stecken, weil wir nicht versprechen können, dass unser ‚Ja, ihr seid erwünscht‘ für alle gilt oder wenigstens für die übergroße Mehrheit. Da sind jüdische Bürger:innen gefährdet – und in Deutschland bröckelt die Solidarität!

Wie bizarr! Wie grauenhaft! Wie ungerecht!

In der Bibel steht beim Propheten Sacharja (2,12), dass Gott über die in alle Winde zerstreuten Juden und Jüdinnen sagt: „Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an.“

Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an, mich selbst, wer sich an Jüdinnen und Juden vergreift, der oder die vergreift sich an mir, vergreift sich an Gott. Jüdische Menschen sind Gottes Augapfel.

Nun kann man sagen: Ja, schön, aber wir leben in einer säkularisierten Welt und was soll mir das, die alte Geschichte von Gott und seinem erwählten Volk? Aber so einfach ist es nicht. Zum einen ist Antisemitismus immer noch auch religiös motiviert, und darum ist es richtig, Christ:innen und auch Muslim:innen zu erinnern an das erste Volk des Bundes Gottes mit den Menschen und die Gemeinsamkeit, die alle abrahamitischen Religionen haben im Bezug auf die Heiligen Schriften und im Glauben an den einen Gott.

Und zum anderen dürfte eine nachchristliche Gesellschaft nicht zurückfallen hinter die alten religiösen Einsichten über die maßgebliche Besonderheit von Menschen und Menschengruppen und Kulturen, die maßgebliche Nicht-Verrechenbarkeit und die unhintergehbare Individualität, die sich in der theologischen Lehre von der Erwählung auch ausdrückt. Eine postreligiöse Gesellschaft müsste das bewahren, dass sich weder Menschen noch Weltanschauungen noch Kulturen in Schemata pressen lassen, sondern immer sie selbst und individuell und verschieden sind. ‚Israel‘ steht auch für diese Individualität und Unverrechenbarkeit. Darum verdienen Juden und Jüdinnen Schutz, und der Staat Israel bei aller Kritik Respekt, und darum müssen wir uns weiterhin die Mühe machen, gegen Antisemitismus vorzugehen, denn wer Antisemit ist, der will das unverrechenbar Besondere, das Individuelle, das Erwählte zerstören. Damit dann alles über einen Leisten geschlagen werden kann.

Die Jüdinnen und Juden sind Gottes Augapfel. Sie stehen unter Gottes Schutz, seit jeher. Und wo sie verfolgt werden, dauert es nicht lange, dann wendet sich die Stimmung auch gegen andere, die unverrechenbar besonders und individuell sind.

Darum werden wir auch im nächsten Jahr Verantwortung übernehmen für eine Gesellschaft, die sich gegen Antisemitismus wendet – gegen das Bizarre, das Grauenhafte, das Ungerechte!

Ich danke Ihnen fürs Zuhören!