Predigt im Gottesdienst in Rupelrath am Zweiten Advent 8.12.24
Ich lese den Predigttext aus dem Buch des Propheten Jesaja, Kapitel 35:
„Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Saget den verzagten Herzen: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.“
Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird.“
Ich mag diesen Text sehr, liebe Gemeinde, vor allem den ersten Vers: „Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Sagt den verzagten Herzen: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!“
Ich sage das oft am Ende eines Gottesdienstes vor dem Segen, als Sendung in die neue Woche: Geht! Stärkt! Macht fest! Tröstet! – Ich habe mir das vor vielen Jahren bei einer Pfarrerin abgeguckt, und mache das oft bis heute, weil ich meine, es beschreibt gut, was Gemeinde tun kann, tun soll: zu den Menschen gehen, sie stärken und trösten! Ihnen sagen: Fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!
Und heute ist dieser Satz und noch ein bisschen mehr von dem Text drumrum unser Predigttext. Ich finde, es passt in unsere Zeit in diesen Advent.
Denn so viele haben gerade müde Hände und wankende Knie und vor allem verzagte Herzen. So vielen zerbröckeln das Leben und Hoffnung gerade unter den Händen: die Angst um den Arbeitsplatz ist da, die Sorge, abzurutschen aus der Lebenssicherheit in schwierige Verhältnisse und dann keine Hilfe zu bekommen, weil gerade so viele Sozialleistungen vielleicht gestrichen werden. Viele sind verunsichert, weil so viel Vertrautes verschwindet, weil so Schlimmes passiert ist im August in der eigenen Stadt, weil tief in allem die große Furcht vor Krieg rumort, die Furcht, hineingezogen werden in die Abgründe, die sich aufgetan haben, als der Frieden zerbrach. So viele haben gerade müde Hände und wankende Knie und verzagte Herzen. Und ich auch. Vielleicht auch Sie.
Und da sagen die Prophetenverse: Geht hin! Stärkt! Macht fest! Tröstet! Sagt, dass Gott kommt! Verkündet, dass Advent ist.
Und dann sagen sie, was Gott, der Kommende, tun wird. Und dann, was dann sein wird. Drei Gedanken, denen ich nachgehen möchte mit Ihnen.
Also zuerst, was wir tun sollen. Stärken, fest machen, trösten. Wie sollen wir das tun, wenn wir selbst müde sind und unsicher auf den Beinen und besorgt im Kopf und im Herzen?
Wie geht das denn? Wie geht das so, dass anderen geholfen wird, und uns auch?
Ich meine, als erstes gehört dazu, eben die eigene Müdigkeit und Unsicherheit und Sorge zu spüren und davon zu reden, ohne gleich in einen vermeintlich sicheren Glauben zu springen. Also sich selber und die Anfechtung aushalten, den Gedanken, dass es schief gehen könnte mit der Welt und uns und dass da keine Rettung kommen könnte. Ich meine, nur so, wenn wir unsere eigene Verzagtheit teilen, können wir mit den anderen, die wir stärken, fest machen und trösten sollen, wirklich in Kontakt kommen. Nur, wenn wir unsere eigene Verstörung spüren, nehmen wir die Welt ernst und ins Gebet und können ihr helfen. Wenn wir das nicht tun, wird, so meine ich, der festeste Glaube weltflüchtig und unkonkret.
Nach dem Terroranschlag im August haben mir nach dem Trauergottesdienst viele gesagt, dass es sie getröstet hätte, dass ich auch keine Antworten habe, jedenfalls da nicht und nicht sofort. Dass ich so verwirrt war wie alle und einen dünnen Faden der Hoffnung nicht aus mir, sondern aus der Bibel und den in ihr aufgeschriebenen Hoffnungen herausgesponnen und angeboten hätte. Darin, haben viele gesagt, lag Trost. Für mich in der Rückschau war das genau das, was ich eben meinte: den schwankenden Boden spüren und die eigenen wankenden Knie. Das ist das erste, wenn wir stärken sollen und festmachen und trösten.
Und dann, das zweite, ist, einen dünnen Faden der Hoffnung spinnen aus den Worten der Bibel, die uns anvertraut sind als ein Schatz von Rettungserfahrungen und Kraftquellen. Wenn wir sagen: Sehr, da ist euer Gott! dann können wir doch nur auf diese Worte, diese Texte, diese Gebete und Wunder und Kraftworte verweisen – denn wo sonst ist Gott zu sehen? Doch zuallererst dort, in diesen Lebensworten, und dann auch und ahn-bar und wiedererkennbar als Geistkraft in unserem Leben und in unserem Land.
Also einen dünnen Faden der Hoffnung spinnen für unsere Zeit. Und damit die Ängstlichen und die Besorgten und die Verunsicherten auffädeln und vorsichtig verknoten, so dass niemand mehr ganz abrutschen kann, sondern gehalten wird von diesem dünnen Hoffnungsfaden. Das ist das zweite beim Stärken, beim fest machen, beim Trösten. Das, was Angst macht und Sorge und das, was verunsichert und verstört, das geht nicht weg beim Auffädeln auf den Hoffnungsfaden, aber der Mensch, der die Angst und Sorge und Verstörung spürt, der wird gehalten und fällt nicht. Und kann sich umschauen und vielleicht Gott, den Kommenden, sehen.
Und unser Text sagt mit einem Vers, was Gott tun wird: Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen. Ich schlucke ein bisschen. Rache ist kein Wort, das mir leicht über die Lippen kommt. Vergeltung auch nicht. Aber manchmal denke ich, dass ich es mir leisten kann, diese Worte nicht zu mögen, weil es mir gut geht und weil mir nichts wirklich Schlimmes passiert ist in meinem Leben, nichts, bei dem jemand mir großes Unrecht zugefügt hat und mein Leben dadurch kaputt gegangen ist oder durch einen großen Schatten belastet wurde. Andere können sich das so nicht leisten, weil ihnen Unrecht angetan wurde, das nicht wieder gut zu machen ist. Für sie sind Rache und Vergeltung vielleicht wichtig, und dann ist es gut, beides bei Gott aufzuheben, auf dessen Gerechtigkeit und Gnade Verlass ist.
Gott also kommt zur Rache und zur Hilfe. Zum Gericht, sagten wir früher, bevor wir uns die Rede vom Gericht abgewöhnt haben, weil wir es uns leisten konnten, und, wenn das, was ich eben sagte, stimmt, zu Unrecht abgewöhnt haben. Der Gedanke an den zum Gericht kommenden Gott gehört in die Adventszeit. Er gehört zu der Erwartung des schutzlosen Friedenskindes dazu, und bewahrt Weihnachten vor dem Versinken in Kitsch. Er sagt, der Gedanke an Gericht im Advent, dass Frieden und Gerechtigkeit nicht zu haben sind ohne Gericht, dass Heilung nicht zu haben ist ohne ehrliches und aufrichtiges Schuldbekenntnis, dass Zukunft erst beginnen kann, wenn Altes geklärt und nicht bloß unter dem Teppich gekehrt worden ist. Das ist wichtig, dieses Gericht nicht aus dem Kommen Gottes zu verdrängen. Es geht dabei wenig um Strafe und schon gar nicht um die Hölle, es geht dabei um Aufklärung und Anerkenntnis von Schuld und um so viel Wiedergutmachung wie möglich. Damit beginnt dann auch Hilfe und Rettung.
Zu diesem Gericht kommt Gott – und wenn wir uns darauf vorbereiten wollen und in unserer Welt schon mal unterscheiden wollen zwischen Gerechtem und Ungerechtem und wenn wir unsere Gesellschaft gestalten wollen, so, dass möglichst alle gut leben können und dass die Würde aller geschützt wird, dann sollen wir uns daran orientieren, was die Bibel uns an Weisung mitgibt auch für unsere Zeit: Gott gelten lassen, und für die Nächsten Obdach, Nahrung, Bildung, Schutz und Teilhabe sicherstellen, und die Schöpfung bewahren. Was das genau heißt, muss im Diskurs und in demokratischer Debatte herausgefunden werden, auch im Meinungsstreit, aber ohne das wird Frieden nicht stabil und groß.
Aber wenn das da ist, Gottes offenbarendes Gericht und unser Stärken und Festmachen und trösten, dann, sagt der Prophet, verspricht, verheißt Jesaja, dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird.
Dann wird freigelassen, wer durch Blindheit oder Taubheit oder Stummheit oder Lähmung gefangen war, dann wird freigesprochen, wer nicht sehen, nicht hören, nicht helfen und nicht fürsprechen wollte. Dann wird blühend und lebendig, was verdorrt war. Die Bibel mag diese Bilder von überschäumender, überquellender Lebensfreude, Lebenskraft. Sie mag Bilder, die sprengen, was eingeschränkt und behindert hat.
Entlang dieser Bilder von überquellender Freude und aufgesprengten Einschränkungen können wir für unsere Zeit und Gesellschaft Bilder der Hoffnung entwickeln und verbreiten und weitersagen: Wir können die Freude beschreiben, die überschäumende Gelöstheit derer, die keine Angst mehr haben vor sozialem Abstieg oder vor Ausgrenzung. Wir können die Freiheit beschreiben, die überquellenden Möglichkeiten derer, die mobil werden in einer barrierefreien Welt. Wir können das Blühen und Gedeihen beschreiben, das hervorbrechende Leben von Tieren und Pflanzen in einer naturnahen und schöpfungsverliebten Gesellschaft. Wir können die Hoffnung beschreiben, die lange ersehnte Gerechtigkeit, die denen, denen Unrecht geschah, einen neuen Weg in ein selbstbestimmtes Leben bahnt. Und wir können die Demut beschreiben, die manchmal bittere Einsicht derer, die – bewusst oder unbewusst – andere ausgegrenzt oder eingeschränkt, behindert und ausgenutzt, alleingelassen und abgewertet haben, und für sie einen heiligen Weg der Bescheidenheit und Solidarität vor uns sehen.
Dieses Verheißungsbild gehört zum Advent. Es kann stärken, festmachen, trösten und retten. Und an der ein oder anderen Stelle bekommen wir alle Platz darin. Wir alle, und immer auch die anderen.
„Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Saget den verzagten Herzen: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.“
Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird.“
Amen.