„Suchet der Stadt Bestes“
Der Prophet Jeremia schreibt an die Deportierten in Babylon. Er schreibt: Richtet euch ein. Betet für die Stadt, in der ihr gelandet seid. Wenn es ihr gut geht, geht es auch euch gut. Suchet der Stadt Bestes. (Jer 29, 7) Dieser Vers wird oft zitiert, wenn es um das Verhältnis der christlichen Gemeinde zur Gesellschaft und Stadt um sie herum geht: Suchet der Stadt Bestes, lasst euch ein, kümmert euch um das Gemeinwesen, in dem ihr lebt, zieht euch nicht fromm zurück, baut keine weltabgewandte Wagenburg.
Es gibt noch einen oft zitierten Vers, wenn es um das Verhältnis der christlichen Gemeinde zur Gesellschaft und Stadt um sie herum geht: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. (Mt 22, 21) Jesus sagt das, als er gefragt wird, ob die Seinen Steuern zahlen sollen. Hier werden der weltliche und der geistliche Lebensbereich unterschieden, im einen gilt die staatliche Logik, im anderen Gottes Wort. In der kirchlichen Tradition wurden beide Bereiche manchmal kategorisch voneinander getrennt, so dass Christenmenschen sich zu staatlichen Dingen gar nicht äußerten. Auch nicht zu staatlichem Unrecht. Ein Vers aus dem Römerbrief wurde dann hinzugezogen: Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet. (Röm 13,1) Ja, geistlicher und weltlicher Lebensbereich wurden getrennt, aber sie wurden beide auf Gottes Anordnung zurückgeführt. So empfanden sich Könige und Regierungen jahrhundertlang von Gottes Gnaden autorisiert und darum unangreifbar. Widerstand war schwer denkbar.
Die Bibel kennt allerdings auch staatliche Gewalt, die sich verselbständigt, nicht mehr steuern lässt und als Ideologie auch Hoheit im geistlichen Bereich beansprucht. Im Buch der Offenbarung wird der totalitäre Staat als Tier aus dem Abgrund bezeichnet (Apk 13), dem die Massen huldigen. Die Passage lässt sich auf alle Imperien und Diktaturen der Weltgeschichte deuten und wirft immer wieder die Frage auf, an welchen Werten Christenmenschen staatliches und gesellschaftliches Leben messen können und wie sie sich verhalten können, wenn diese Werte verletzt werden. Wann Widerstand geboten ist. Denn die Bibel weiß auch: Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen (Apg 5, 29).
Eine Möglichkeit ist, die Zehn Gebote heranzuziehen: „Gott gelten lassen. Nichts neben Gott vergöttern. Den Namen nicht für unsere Zwecke gebrauchen. Ausruhen und Gott Zeit geben. Als Alt und Jung füreinander sorgen. Leben schützen. Beziehungen achten und wahren. Andern das Ihre gönnen und lassen. Wahrhaftig sein. Begehren begrenzen.“ (aus: Nimm an unser Gebet, 197). Eine andere, die Gesellschaft an ihrem Umgang mit den Schwächsten zu messen und an den sieben Werken der Barmherzigkeit (Mt 25, 35 ff): Hungernde speisen; Dürstenden zu trinken geben; Nackte bekleiden; Fremde aufnehmen; Kranke besuchen; Gefangene besuchen; Tote begraben. Aus beiden lassen sich leicht konkrete Perspektiven entwickeln, was es heutzutage heißt, der Stadt Bestes zu suchen.
Ich möchte noch eine dritte Möglichkeit anführen, die durchaus Überschneidungen hat mit den anderen: Die Bergpredigt heranzuziehen, besonders die Seligpreisungen. In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts gab es eine heftige Debatte darum, ob man mit der Bergpredigt Politik machen könne. Was damals noch ernsthaft umstritten war, wird nach der proklamierten ‚Zeitenwende‘ nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine nicht mehr ernst genommen. Die Friedensbewegten gelten als naiv, rückwärtsgewandt und aus der Zeit gefallen. Die, die Wohlstand teilen möchten, Integration gestalten wollen und für sozialen Chancenausgleich eintreten gelten als verträumt und unrealistisch und in einer nach rechts gerückten Gesellschaft als schräge Gutmenschen. Aber was, wenn das nicht stimmt? Was, wenn eine an den Seligpreisungen ausgerichtete Gesellschaftspolitik uns alle zufriedener machen würde?
Wer sind denn die, die seliggepriesen werden in der Bergpredigt?
Die, die wissen, dass sie vor Gott arm sind – die also keine Heilsversprechen machen. Die, die an der Not der Welt leiden – die also, die spüren, worum man sich kümmern muss. Die, die von Herzen freundlich sind – also die, die sich ‚hate speech‘ verweigern und dagegen eintreten. Die, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit – also die, die den Finger in die Wunde legen. Die, die barmherzig sind – also die, die sich anderen zuwenden. Die, die ein reines Herz haben – also die, für die nicht der Zweck die Mittel heiligt. Die, die Frieden stiften – also die, die die Vision einer friedlichen Welt niemals aufgeben. Die, die verfolgt werden, weil sie tun, was Gott will – also die, die sich mit einer gottlosen Welt nicht abfinden wollen.
Was wäre, wenn wir aus dem seliggepriesenen Verhalten einen ‚way of life‘ für uns heute machten? Könnte es sein, dass wir damit unserer Stadt Bestes suchten? Weil aus dem persönlichen Umfeld, dem Privaten schnell das Politische wird; weil die Veränderungen im eigenen Verhalten Kreise ziehen; weil das Populistische und Hetzerische dann nicht mehr gefüttert und verstärkt werden.
Die Barmer Theologische Erklärung von 1934, mit der die Bekennende Kirche den übergriffigen Staat in die Schranken zu weisen versuchte, beschreibt die Aufgabe von Kirche so: Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.
Das ist die bekenntnishafte Formulierung von ‚Suchet der Stadt Bestes‘!
Und die Aufgabe der Christenmenschen: Erinnern. An Gottes Reich, Gebot und Gerechtigkeit. In einer Welt, die alles nur zu gern und schrecklich leichtfertig vergisst.
Die Gefahr einer faschistischen, totalitären und menschenverachtenden Machtpolitik ist zurück in unserem Land.
Dagegen ist Widerstand geboten. Im Namen von Gottes Reich, Gottes Gebot und Gerechtigkeit. Im Namen der unverwüstlichen Menschenliebe Gottes.
Und Widerstand heißt erinnern: an die Gebote, die Werke der Barmherzigkeit und die Seligpreisungen.