Liebe Gemeinde,
ich frage mich manchmal – und in letzter Zeit öfter als sonst – warum und wozu ich da bin, auf der Welt, und warum und wozu ich hier bin, hier in Solingen.
Warum bin ich da, und wozu bin ich hier, als Christenmensch, als Pfarrerin, als Superintendentin – was ist meine Aufgabe gerade jetzt, in dieser Zeit, in dieser Stadt?
Und ich frage mich weiter: Wozu sind wir da, als Gemeinde, als Klingenkirche, als evangelische Kirche in Solingen im Jahr 2025: Warum gibt es uns, wozu sind wir da, was ist unsere Aufgabe?
Vor vier Wochen waren wir mit dem KSV zum Klausurwochenende unterwegs und haben uns diese Frage auch gestellt:
Warum und wozu ist evangelische Kirche in Solingen heute da?
Und dann: Wie sind wir da, auf welche besondere Weise sind wir da?
Und als drittes: Was sollen wir tun? Was sollen wir tun, damit erkennbar sind, wozu wir da sind?

Es war ein spannendes Wochenende, und ich erzähle Ihnen davon, weil der Predigttext mich daran erinnert hat. An die Fragen nach dem Wozu, dem Wie und dem Was.
Und heute Morgen frage ich darum nicht mich selbst, sondern die Bibel und darin Gottes Geistkraft, warum und wozu es mich und uns gibt als Kirchenleute in Solingen. Bevor ich unseren Predigttext lese aber noch ein paar Sätze aus unseren Antworten an dem Wochenende vor vier Wochen: Wir sind da, haben wir gesagt, uns gibt es, weil wir die Erfahrung, dass Gott uns nahe ist, weitergeben wollen, weil wir ohne Zwang die Botschaft, dass Gott andere Maßstäbe setzt, weitersagen möchten. Uns gibt es, damit das Evangelium von Jesus Christus heute neu erzählt wird und damit wir für Menschen auch in ihren Nöten da sind. Wir sind da, weil wir Salz der Erde sind und gemeinsam mit anderen der Stadt Bestes suchen.
Wir haben diese Sätze nicht zurechtgefeilt und einzelne Worte nicht auf die Goldwaage gelegt. Wozu auch? Sie haben alle einen Kern: Uns als Klingenkirche und Klingenkirchenleute gibt es, damit durch uns Gottes Liebe und Nähe und Barmherzigkeit in Solingen erklingt.
Das heißt nicht, dass all das ohne uns gar nicht erklingen würde. Darum geht es nicht. Aber es heißt, dass wir das, wozu wir da sind, das Erklingen-Lassen von Gottes Liebe und Nähe und Barmherzigkeit so gut wie möglich auf unsere evangelische Weise tun sollen, und dass etwas fehlen würde, wenn wir es nicht täten. Und dass wir gut daran tun, uns dieses unser Warum und Wozu immer mal wieder klar zu machen.
Der Predigttext für heute hilft dabei und gibt auf die Frage nach dem Wozu der Kirchenleute, die er Jünger nennt, eine eigene Antwort – ich lese aus dem Propheten Jesaja, Kapitel 50, Verse 4-9:
„Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.
Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.
Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!
Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.“
Gedanken über das Sein der Gottesjünger in der Welt.
Wozu sind Jünger Gottes da? Zu reden. Zu hören. Nicht zurück zu weichen!
Dazu hat Gott den Jüngern und Jüngerinnen eine Zunge gegeben, Ohren und Rückgrat!
Eine Zunge, Ohren und Rückgrat. Zu reden, zu hören und nicht zurück zu weichen.
Dazu sind wir da.
Zu reden.
Das beschreibt der Text mit dieser wunderbaren Formulierung: Mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.
Mit den Müden: mit denen, denen die Kraft ausgeht und die Geduld, mit denen, die erschöpft sind von der Mühe der Tage und den Sorgen, die sie sich machen, weil sie nicht wissen wie es weitergehen soll. Mit den Müden, die viel zu viel arbeiten und mit den Müden, die die Langeweile niederdrückt und die Untätigkeit. Mit den Müden, die sich für ihre Kinder oder ihre Alten abmühen und für die Müden, die Stunden um Stunden am Tag einer stumpfsinnig machenden Arbeit nachgehen müssen, weil sie eine andere nicht finden. Mit den Müden, deren Hoffnung allzu oft enttäuscht wurde und die nur noch frustriert sind und mit den Müden, die sich aufreiben mit leidenschaftlichem Engagement für eine Sache.
Mit denen zu reden. Mit all diesen Müden. Auf diese Müden zu achten, auf sie zuzugehen, bereit sein, mit ihnen zu reden.
Zu rechter Zeit. Nicht nach Stundenplan und Terminkalender. Nicht dann, wenn die Müden Ruhe brauchen. Nicht, wenn es mir danach ist. Sondern dann, wenn es dran ist. Wenn die Müden hören können oder wenn etwas unbedingt gesagt werden muss.
Rechte Zeit, dass kann die Zeit sein, in der Menschen hörbereit sind, weil sie satt und warm sind, oder wissenshungrig, oder trostbedürftig oder ratsuchend.
Rechte Zeit, dass kann aber auch die Zeit sein, in der etwas gesagt werden muss, weil es sonst zu spät ist, in der Menschen gewarnt und wachgerüttelt werden müssen, weil Gefahr droht, woher und wodurch auch immer.
In diesem Jahr ist die Frage nach der rechten Zeit wichtig – weil so viele Menschen sich furchtbare Sorgen machen, weil die Normalität erschüttert ist: Sie haben Angst, dass die Firma Leute entlässt oder dass alles so teuer wird, dass das Geld jetzt gar nicht mehr reicht. Sie haben Angst, dass die Kinder oder Enkel wieder zur Bundeswehr müssen und vielleicht als Soldaten in den Krieg, weil der Frieden nicht mehr stabil ist. Sie haben Angst, weil sie sich nicht mehr so richtig zurechtfinden in einer Welt voller falscher Wahrheiten und unverblümter Lügen.
Die Frage nach der rechten Zeit ist gerade jetzt aber auch wichtig, weil so viele in den Tag hinein leben und sich nicht darum scheren, wohin unsere Welt driftet; weil so viele nur an sich selbst und nicht an die Gemeinschaft denken oder fahrlässig unsere offene Demokratie aufs Spiel setzen. Wann ist die Zeit für tröstende, wann die für warnende Worte?
Wie gut, dass Gott uns eine Zunge gibt, und die Geistkraft, zu wissen, zu rechter Zeit zu reden!
Wir sind auch dazu da, zu hören. Zu hören auf das, was Gott sagt, was Gott heute sagt durch die alten Worte der Bibel, heute wieder neu: dass wir ihn achten sollen und die Nächsten lieben, dass wir der Wahrheit treu bleiben sollen und vertrauenswürdig für unsere Mitmenschen, dass wir die schützen sollen, die in Not sind, und die respektieren, die aus der Fremde gekommen sind. Zu hören darauf, wie Gott uns von Liebe spricht und Anerkenntnis und von Gnade und Barmherzigkeit. Dazu sind wir da. Das zu hören, damit wir es glauben und im Herzen bewahren können.
Und dann auch weitersagen.
Und wir sind dazu da, nicht zurück zu weichen, Rückgrat zu haben und Haltung zu zeigen. Das, was wir gehört haben, nicht vergessen oder verleugnen. Die, mit denen wir reden sollen, nicht im Stich lassen. Auch, wenn wir Druck bekommen und es schwierig wird. Ich hoffe so sehr, dass das nicht passiert, dass es schwierig wird, Christenmensch und Klingenkirche zu sein, aber es ist nicht sicher, dass das nicht passiert, und wenn es so kommt, sind wir dazu da, standzuhalten und nicht zurück zu weichen.
Heute ist Palmsonntag. Der Tag, an dem Jesus unter dem Jubel der Menge in Jerusalem eingezogen ist. Ein Triumphzug, und alle, die Hosianna riefen, glaubten an ihn und sie glaubten sich, dass sie das immer tun würden. Und nur wenige Tag später verriet ihn sein Jünger Judas, rief die Menge ‚Kreuzige ihn‘ und sein Jünger Petrus verleugnete ihn. Das kann Jüngern passieren, dass sie zur rechten Zeit nicht reden und dass sie das Gehörte vergessen und dass sie zurückweichen.
Es kann Jüngern und Jüngerinnen und auch uns heute passieren, dass wir zurückweichen von dem, was wir gehört haben, weil es zu anstrengend wird oder zu unbequem. Weil es uns wirklich etwas abverlangen würde – Zeit und Geld und Seelenruhe und das Gefühl, dazuzugehören – bei dem zu bleiben, was wir gehört haben von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen und dass wir unserer Brüder Hüter sein sollen, unserer Geschwister liebevolle Hüter und Hüterinnen.
Und dann kann es sein, dass wir und die Kirche nicht mehr tun, wozu sie da sind, nicht mehr reden und hören und Rückgrat zeigen, sondern verwechselbar werden und aus dem ‚Hosianna‘ ins ‚Kreuzige ihn‘ übergehen und denen nachlaufen, die Jesus verraten und Gott verleugnen, indem sie die Müden sich selbst überlassen und das, was sie gehört haben, vergessen oder verkürzt wiedergeben oder bloß symbolisch verstehen und dann gar nicht mehr merken, dass sie haltlos werden und ohne Rückgrat.
Es kann sein, dass das passiert, es kann sein, dass das gerade jetzt passiert in der gereizten Stimmung in unserem Land und durch die markigen Worte, die Empathie zur Schwäche erklären. Es kann sein, dass all das passiert. Jesus und Gott würden uns nicht fallenlassen, wie sie Judas und Petrus und die Menge vom Karfreitag nicht fallengelassen haben. Aber wir sind nicht dafür da, das das passiert. Wir sind für etwas anderes da: zu reden mit den Müden zu rechter Zeit, zu hören und nicht zurückzuweichen.
Redet. Hört. Weicht nicht zurück. Dazu sind wir da, das ist der Klang der Klingenkirche. Lasst uns dabei bleiben. Auch wenn es schwer wird.