Rede am Mahnmal –

31. Jahrestag des Brandanschlags auf das Haus der Familie Genc

Liebe Familie Genc, liebe Solingerinnen und Solinger, liebe Geschwister!

Friede sei mit euch! Salam aleikum!

Wir haben uns hier versammelt, um, wie in jedem Jahr, an Gürsün Ince, an Gülüstan Öztürk, an Hatice Genc, Hülya Genc und Saime Genc zu erinnern.

Und an das schreckliche Verbrechen, durch das sie ermordet wurden.

Und wir erinnern uns dankbar an die Hand der Versöhnung, die Mevlüde Genc, ihre Mutter, Tante und Großmutter, der Stadtgesellschaft immer und immer wieder entgegenhielt.

Wir stehen hier, weil wir versprochen haben, das alles nie zu vergessen!

Mir geht heute ein Gedanke durch den Kopf, der aus der christlichen Weihnachtsgeschichte stammt: Da verkündet ein Engel einer Gruppe verwirrter Hirten die Geburt Gottes als Mensch und dass dieses Gotteskind der Heiland sein soll, der Retter der Welt, der Friedefürst. Und da heißt es: Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie! Der Engel und die Hirten und die Worte: Alles ist in die Klarheit Gottes getaucht.

Ich glaube, in allen Religionen gibt es solche Momente, die in die Klarheit Gottes getaucht sind: Vielleicht ist es im Islam der Moment, in dem der Kor´an herabgesandt wurde an Mohammed und mit ihm Rechtleitung in der Welt war. Vielleicht ist es im Judentum der Moment, in dem sich das Rote Meer teilte und die aus der Sklaverei fliehenden Israeliten befreite. Momente der Klarheit Gottes, die sehr klar erkennbar machten, worum es ging: Rettung, Befreiung, Rechtleitung!

In unserer Zeit ist kaum etwas klar.

Im Gegenteil, diese Welt ist ein großer Kuddelmuddel.

Religion verbindet sich mit Nationalismus. Politik missbraucht Religion. Glaube radikalisiert sich. Friede wird gebrochen und gestört. „Nord“ und „Süd“ und „Schwarz“ und „Weiß“ sind erklärende Konstruktionen von Macht, Ohnmacht und Unterdrückung, aber sie treffen im Einzelfall dann doch nicht zu.

Kriege und Konflikte bleiben nicht räumlich begrenzt und flammen an ganz anderen Teilen der Welt auf.

Die Abrahamskinder finden nicht zur Versöhnung, sie reden oft nicht mehr miteinander. Hass und Feindschaft zwischen den Religionen, zwischen verschiedenen Kulturen nehmen zu. Entsetzliches Leid geschieht auf allen Seiten, und viele fürchten einen neuen Weltkrieg.

Zeiten der Verdüsterung, in denen Rettung, Befreiung und Rechtleitung unfassbar fern sind. Gebete ‚Gott, hilf! Gott, eile deiner Welt zu Hilfe!‘ und Rufe nach Gerechtigkeit verhallen wie ungehört.

In diesem Jahr im März wurde Solingen wieder von einem Brandanschlag erschüttert. Eine junge muslimische Familie, die kurz vorher aus Bulgarien hergekommen war, stirbt in den Flammen. Vier Menschen sind tot. Wir werden genauso wenig mit ihnen leben und alt werden, wie wir mit Gürsün, Gülüstan, Hatice, Hülya und Saime leben und alt werden konnten. Das Verbrechen wird wohl aufgeklärt werden, aber wieder verhallen die Gebete und Rufe nach Rettung und Gerechtigkeit wie ungehört.

Warum ich das hier erzähle? Weil ich überzeugt bin, dass es Klarheit nur im Konkreten gibt, vor Ort, da, wo Menschen einander begegnen. Da, wo Radikalismen entlarvt werden. Da, wo sich Menschen kennen und versöhnen können. Es ist schwer genug. Denn auch die, die 1993 schon in Solingen lebten von uns, haben die Tage damals sehr verschieden erlebt. Aber hier kann man reden. Von den eigenen Erblebnissen erzählen. Sich gegen Vereinnahmung wehren. Sich in der Erinnerung verständigen.

Miteinander gegen Hass, Diskriminierung, Rassismus und Gewalt eintreten. In Zeiten der Verdüsterung nach der Klarheit Gottes rufen und darum beten. Keine einfachen Antworten wählen. Gemeinsam für Aufklärung eintreten, für Rettung, Befreiung und Rechtleitung. Im verschiedenen Glauben zusammenfinden. Kulturelle Grenzen überwinden. Einander die Hände zur Versöhnung entgegenhalten. Und auf Gottes Frieden und das ewige Leben für die so sinnlos Ermordeten hoffen. Hier, im Konkreten, hier, in Solingen ist das möglich.

Nächstes Jahr werden wir darum wieder hier stehen!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!