Predigt für die Stadtkirche Mitte in Solingen 11.2.24, Amos 5, 21-24
Liebe Gemeinde,
der Predigttext für heute steht beim Propheten Amos und ist eine richtige Gardinenpredigt, die der Prophet dem Volk auf Gottes Geheiß hin hält. Ich lese aus Amos 5:
„Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach!“
Gott hat, so würden wir sagen, die Faxen dicke und den Kaffee auf. Die Art, wie die Leute Gottesdienst feiern, gefällt ihm ganz und gar nicht. In Gottes Augen ist das alles eine bloße Show und Heuchelei, weil Recht und Gerechtigkeit nicht wichtig sind, bloß der äußere Schein. Das kann Gott nicht leiden.
Nun gut.
Das war damals. Wir opfern keine Brand- und Speisopfer, und ich denke auch nicht, dass unsere Kirchenmusik Geplärr ist (auch wenn wir schon mal schief singen). Wir zahlen Kirchensteuer und machen Café Herzenswärme.
Und trotzdem: Mich treffen diese Verse. Immer schon. Und jetzt, in diesen Wochen, besonders.
Nicht wegen Karneval, ich glaube nicht, dass Gott mit Karneval groß ein Problem hat, es sei denn, es kommt im Suff zu Übergriffen und Gewalt. Nein, frohe und ungebärdige Feste sind nicht gemeint. Es geht nicht um Spaßbremsen oder Spielverderberei.
Es geht um den Riss, der sich auftut zwischen schönen und frommen Oberflächen und dem, was dahinter versteckt und darunter gekehrt wird. Und das zum Himmel stinkt, weil es ungerecht und unrecht ist.
Es geht um Heuchelei, Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit.
Und es geht, wenn wir den Text heute zum Nachdenken vorgeschlagen bekommen, darum, dass diese Worte uns angehen, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: „Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. (…) Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder!“
Mich treffen diese Verse.
Mich treffen sie besonders in diesen Wochen nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche.
Ich nehme an, dass Sie das mitbekommen haben: Ende Januar wurde eine Studie veröffentlicht, für die unabhängige Wissenschaftler:innen drei Jahre lang Akten aller evangelischen Landeskirchen analysiert haben. Sie haben dann Rückschlüsse gezogen auf das, was Übergriffe und sexualisierte Gewalt in unserer Kirche begünstigt.
Ich bin über das, was da jetzt schwarz auf weiß steht, ziemlich erschrocken. Weil es mehr Fälle sind, als wir gedacht haben. Und vor allem, weil es oft so war, dass Wissen vertuscht wurde, dass Betroffenen nicht geglaubt und dass Täter gedeckt wurden. Weil unsere Pfarrhäuser mit ihren offenen Türen und unsere innige Gemeinschaft immer wieder die schöne Fassade waren, hinter der sich Schrecken und Gewalt abspielten. Ich wusste, dass es das auch bei uns gab. Aber ich habe selten darüber nachgedacht. Wir haben in den letzten Jahren nach vorn gedacht, Schutzkonzepte geschrieben und Mitarbeitende geschult und Verfahrenspläne für den Fall des Falles geschrieben. Wir haben eine Menge getan, damit Gewalt und sexuelle Übergriffe bei uns nicht geschehen können oder sofort unterbunden werden. Das alles ist gut und wichtig und richtig. Wir entwickeln unsere Kirchenkultur damit weiter, in eine gute Richtung.
Aber die Studie macht etwas anderes mit uns: Sie stößt uns auf den Riss, der klafft zwischen unseren schönen und frommen Oberflächen und dem, was dahinter versteckt oder darunter gekehrt wurde.
Sie macht dasselbe wie der Amos-Text: Sie entlarvt den schönen Schein, der nicht erkennen lässt, ob Recht und Gerechtigkeit strömen.
Und wir, wir sollen genau hinhören. Denn es war nicht irgendwo, wo Übergriffe passierten, sondern es war in Solingen. Auch in Solingen. Und auch, wenn wir es nicht waren, und wenn wir nichts wussten, so müssen wir uns doch fragen, ob wir aufmerksam genug waren und ob wir hingehört haben, wenn Betroffene Hilfe suchten, oder ob wir weggehört haben, weil, wenn da etwas dran wäre, dann würde ja alles kaputt gehen in der Gemeinde. Weil dann ja alles kaputt ginge, das uns wichtig ist und an das wir geglaubt haben, dem wir unsere Lebenskraft gegeben haben.
Genau das, das Weggucken und Weghören, ist in unserer Kirche passiert, nicht nur einmal, viel, viel öfter, und wir haben weiter unsere Feiertage gefeiert und unsere Lieder gesungen und die, die betroffen waren und Hilfe suchten, ignoriert und alleingelassen und rausgedrängt und vergessen. Und haben damit die Täter geschützt.
Und jetzt sagen die Betroffenen, die überlebt haben: Damit muss Schluss sein. Ihr müsst euch dem stellen, was da passiert ist, ihr müsst es anerkennen, ihr müsst für Gerechtigkeit und Recht sorgen. Ihr müsst das jetzt endlich tun. Und durch das, was sie sagen, die überlebenden Betroffenen, klingen die Worte des Propheten Amos, der in einer ganz anderen Zeit und zu einem ganz anderen Problem genau das sagte: „Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach!“
Und wir hören: Wir können nicht weitermachen, als sei nichts gewesen. Dann werden unsere Gottesdienste und Gebete Heuchelei. Wir hören: Gott hat die Faxen dicke und den Kaffee auf, wenn seine Kirche die Wahrheit vertuscht, ob hinter Weihrauch oder Brandgeruch oder Kaffeeduft beim Kirchcafé. Wichtig sind Recht und Gerechtigkeit, die fließen sollen wie ein nie versiegender Bach oder wie das klare Morgenlicht, dass durch die Fenster in unsere Kirche fließt.
Das sollen wir hören. Und das hören wir.
Und was sollen wir tun? Was sollen wir tun?
Innehalten. Akzeptieren, dass es so ist, dass bei uns Unrecht und Übergriffe geschehen konnten und können. Nachdenken. Gemeinsam überlegen, was das bedeutet, was das für unser Gemeindeleben bedeutet. Die Erkenntnisse aus der Studie nicht beiseiteschieben, nicht klein reden und nicht anderen zuschustern.
Und dann: Uns erinnern. Uns erinnern an alte Zeiten und was da war und was vielleicht getuschelt wurde und was wir nie ernst genommen haben. Darüber reden. Es jetzt ernst nehmen. Und so verstehen, wie sexualisierte Gewalt passieren konnte bei uns. Und so anfangen, aufzuarbeiten, was aufzuarbeiten ist, damit Gerechtigkeit strömen kann bei uns.
Und dann: Über Macht nachdenken und über Liebe. Vor allem über den Unterschied zwischen beiden. Uns klar machen, wie oft wir von Liebe reden und Macht meinen. In der Kirche, aber auch überhaupt in unserer Gesellschaft. Wie oft wird im Namen der Liebe Gewalt getan. Und Vergebung eingefordert. Verständnis. Geduld und Erdulden. Das ist keine Liebe. Liebe macht frei und groß und nicht angstvoll und klein. Liebe macht keine gemeinsame Sache mit Macht und Gewalt. Wir haben das Hohelied der Liebe aus dem Korintherbrief als Lesung gehört. Da steht, dass Liebe alles erträgt und duldet. Aber auch, dass sie Ungerechtigkeit nicht will. Dass sie sich an der Wahrheit freut. Man darf also nicht sagen: Liebe, du musst ertragen und dulden – das ist ungerecht. Wir können aber staunend erkennen: Liebe erträgt und duldet, und ist darum eine Verbündete der Wahrheit.
Eine Verbündete Gottes, der die Liebe selbst ist und die Wahrheit. Paulus sagt: Wenn ich die Liebe nicht hätte, wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Amos sagt: Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Die ForuM-Studie sagt uns: Hört auf mit Entschuldigungen und Ausreden. Akzeptiert die Ergebnisse und stellt euch der Wahrheit. Und wir hören zu und halten inne, erinnern uns und denken nach, zuerst über den Unterschied zwischen Macht und Liebe, und wir finden heraus, nach und nach, was wir anders machen müssen. Damit das Recht strömt wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach!
Amen.