Predigt im Trauergottesdienst in Solingen

Liebe Gemeinde,

es war so ganz anders geplant, aber die grausame Messerattacke vorgestern Abend hat alles verändert. Sie hat uns in eine ganz andere Welt und Stimmung geschleudert. Und mit dieser anderen Welt und Stimmung hat sich auch sehr verändert, was ich heute Morgen sagen möchte.

Ich wollte erzählen von den ersten Menschen und den ersten beiden Fragen, die Gott seinen Geschöpfen stellt, von der ersten Frage: Mensch, wo bist du? und der zweiten: Mensch, wo ist dein Bruder?

Ich wollte vom Anfang reden, als bei den ersten Adams so viel schon schief ging und Misstrauen und Zweifel und Orientierungslosigkeit und Eifersucht und Gewalt in die Welt kamen und wie Gott den Menschen und allen ihren Geschwistern nachgeht und was das für uns in Solingen heute heißt.

Ich wollte davon reden, wie diese Fragen uns zum Antworten bringen, uns ver-antwort-lich machen.

Und jetzt haben diese Fragen unversehens und ganz und gar seit den späten Freitag Abend einen ganz anderen Klang: Angstvoll telefonierten Solinger und Festbesucherinnen von anderswo miteinander, als die Nachricht die Runde machte und das Tatütata die Musik der Bands übertönte: Mensch, wo bist du? Bist du in Sicherheit? Weißt du, wo dein Bruder ist, wo deine Schwester? Bist du o.k.? Mensch, wo bist du?

Und wir hörten, dass ganz viele in Sicherheit waren und Begleitung fanden durch Freunde und Familie und die Notfallseelsorge. Aber nicht alle. Wir hörten, dass drei Menschen ermordet wurden. Wer nah bei denen stand, kann auf die Frage nach dem Bruder, der Schwester nur verstummen oder weinen. Wir hörten, dass weitere so schwer verletzt wurden, dass sie noch um ihr Leben kämpfen, und wir beten für sie und die, die um ihr Leben bangen.

Und noch einen andern Klang bekam die Frage, wenn wir uns fragten, wer denn so etwas tun könne und wer da der oder die Täter sein könnten: Mensch, wo bist du? Was bist du für einer, dass du unschuldige Feiernde tötest? Da war dann noch ein schrecklich besorgter Unterton: Mensch, was bist du für einer? Wo kommst du her und was hat dich getrieben und was bedeutet das alles für uns, für Solingen, für das, was uns bis ins Mark durchrütteln wird noch lange und wer wird alles wen beschuldigen.

So klingen die Fragen vom Anfang, Mensch, wo bist du? und Mensch, wo ist dein Bruder?

Aber heute treibt mich noch eine andere Frage um, die Frage, die ich, die wir Menschen in Not und Fassungslosigkeit Gott stellen: Gott, wo bist du?

Wo bist du? Gott, ich möchte Antwort, ich möchte dich ver-antwort-lich machen, ich möchte dich hören und dass du mein, unser Erschrecken und meine, unsere Verzweiflung auffängst.

Aber im Moment, jetzt, heute, höre ich keine Antwort, ich weiß nicht, ob Gott mir eine gibt oder uns, aber ich höre sie nicht und ihr vielleicht auch nicht. Der Kummer, die Trauer, das Entsetzen, dass diese Mordtat wirklich geworden ist hier bei uns, auf dem Platz vor der Kirche, all das ist so groß, so laut, so schrecklich, dass ich keine Antwort höre. Die Sorge vor dem, was noch kommt, ist so groß, dass noch kein Trostwort durchkommt.

Und das ist schwer auszuhalten, erst mal kein Trost und keine Klarheit, warum das geschehen konnte und was dazu geführt hat und wer daran Schuld hat. Heute morgen heißt es, der Täter habe sich gestellt. Das ist ein Anfang, aber noch keine Antwort.

Es ist so schwer auszuhalten, keine Antwort zu bekommen, dass überall um uns rum Gerüchte und Verleumdungen und Schuldzuweisungen aufploppen und einfache Antworten liefern und so tun, als gäbe es Lösungen – aber dann ist es doch nicht so einfach, aber das nimmt dann niemand mehr wahr, und das Unglück, das zu einfache Antworten anrichten, nimmt seinen Lauf. Wir versuchen, das auszuhalten, dass da keine Antworten sind, nicht von Gott und nicht von uns und nicht von selbsternannten Welterklärern, wir versuchen, das auszuhalten, gestern hier in der Kirche, auf dem Neumarkt, und auch heute morgen im Gottesdienst.

Zum Aushalten gehört, immer wieder diese Frage zu stellen: Gott, wo bist du? Bist du nicht ver-antwort-lich für uns? Immer dringlicher fragen wir.

Gestern wollte eine Journalistin wissen, was wir denn jetzt tun würden, nach der Messerattacke, um die Menschen zusammenzuhalten? Und ich sagte, da fällt mir die Antwort schwer, denn wir tun ja schon und auch dieses Fest war ein Teil des Tuns, Teil der Bemühung, Menschen zusammenzubringen und einander begegnen zu lassen, und was anderes wir tun könnten, wüsste ich jetzt im Moment nicht. Sie sagte, dass klänge ein bisschen verzweifelt und ja, sagte ich, das wäre so, nicht für immer, aber im Moment wäre da auch Verzweiflung, weil mir die Antwort fehlt auf die Frage, was wir denn tun können.

Diese Antwort fehlt uns allen. Nicht, weil wir dumm sind. Sondern weil es vielleicht gerade keine Lösung gibt für die sinnlose, willkürliche, unbegreifliche Gewalt auf der Welt und in Solingen.

Ich gebe die Sehnsucht nach Antwort weiter an Gott, und sage, du bist verantwortlich für uns, du hast uns gemacht, antworte, sag uns, wo du bist und was wir tun sollen, sag uns, wie alles gut wird, sag uns, was funktioniert, was hilft, hol uns heraus aus dem Aushalten-Müssen und dem Entsetzen, sag uns, was wir machen sollen.

 

Vielleicht sollen wir jetzt gar nichts machen. Nichts lösen. Nicht alles und nicht einmal etwas gut machen. Vielleicht sollen und können wir unsere Verzweiflung einfach Gott vor die Füße kippen. Und auch die Wut und unsere Zweifel und das Nicht-weiter-wissen.

Und darauf hoffen, dass die Verheißungen der Bibel tragen. Die Geschichten vom Anfang, von denen ich eigentlich reden wollte.

Wie die ersten Menschen das Paradies verlieren, als sie sich mit der Schlange einlassen und Misstrauen, Zweifel und Orientierungslosigkeit in die Welt bringen. Da kommt Gott in den Garten und sucht sie und geht ihnen nach und ruft: Mensch, wo bist du? Das ist die erste Frage, die Gott den Menschen stellt: Mensch, wo bist du?

Die ersten Menschen verstecken sich, und lassen sich nicht finden, und die Geschichte geht weiter und aus Misstrauen und Zweifel wird Eifersucht und Herrschaftsanspruch und Gewalt. Der eine Bruder erschlägt den anderen. Da kommt Gott auf die Erde und sucht nach dem Getöteten Abel und ruft und fragt: Mensch, wo ist dein Bruder? Das ist die zweite Frage, die Gott den Menschen stellt: Mensch, wo ist dein Bruder?

Die Geschichten vom Anfang. Die uns erzählen, wie Gott den Menschen sucht. Und auch den anderen Menschen, den Getöteten, zum Opfer gemachten. Die uns versprechen, dass Gott bei uns sein will, dass er in den Garten und auf die Erde und nach Solingen kommt, um uns zu suchen. Und unsere Geschwister. Gott sucht uns in unserer Not und Fassungslosigkeit und unsere Geschwister in ihrer Trauer und Verzweiflung und findet uns.

Gott findet uns. So versprechen die Geschichten vom Anfang. Auch in unseren Kummer heute hinein. Das ist der Klang, den diese Fragen in den Verheißungsgeschichten haben: den leisen Trost, das Gott uns suchen und finden will.

Und so lesen wir darin auch die Antwort auf die Frage: Gott, wo bist du? – Gott kommt, Gott kommt in den Garten und auf die Erde und auf den Fronhof und in diese Kirche und ist hier, bei den Getöteten, bei den Verwundeten, bei den Angehörigen in ihrem bitteren Leid und bei uns, die wir aushalten müssen, keine Antworten zu haben und keine schnellen Lösungen.

Aber die wir nicht allein sind. Weil Gott gekommen ist. Und sich verantwortlich für uns macht. Anders, als wir denken. So, dass wir es glauben dürfen.

Es geht nicht darum, was wir jetzt machen. Wir dürfen unsere Hilflosigkeit einfach Gott vor die Füße kippen. Sie löst sich dadurch nicht auf. Dazu ist die Situation wirklich zu vertrackt.

Aber wir sind nicht allein damit. Weil Gott kommt und nach uns sucht.

Und wir bekommen einen Hinweis, der weiterhilft: Gott fragt nicht nur nach uns. Gott fragt auch nach unseren Geschwistern. Damit wir Menschen als Menschen beieinander bleiben.

So heißt es beim Propheten: „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken.“

Und im Evangelium heißt es: „Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und zu retten das Verlorene.“

Da ist Gott. Auf der Erde. Auf der Suche nach uns. Dabei, uns zu finden.

Amen.