


(I) Als ich in Not war, schrie ich laut.
Ich rief zum Herrn und er antwortete mir.
Aus dem Innern des Totenreichs rief ich um Hilfe.
Da hast du mein lautes Schreien gehört.
(II) In Wirklichkeit haben sie nicht laut geschrien. Die meisten sind fassungslos verstummt und haben sich ohne Gegenwehr deportieren lassen. Damals. In die Konzentrationslager. Als überall auf der Welt Krieg war, aber trotzdem genug Zeit und Energie, um die Juden und Jüdinnen zu vernichten. Nur wenige leisteten Widerstand. Nur wenige überlebten.
Viele aber hielten an Adonaj fest und beteten:
(I) In die Tiefe hattest du mich geworfen,
mitten in den Strudel der Meere hinein.
Wasserströme umgaben mich.
Alle deine Wellen und Wogen –
sie schlugen über mir zusammen!
Da dachte ich: Jetzt bin ich verloren,
verstoßen aus deinen Augen.
Wie kann ich je wieder aufschauen,
um deinen heiligen Tempel zu sehen?
(II) Kam das Unheil von dir, Adonaj? Schlugen deine Wellen und Wogen über ihnen zusammen oder waren die Feinde, die Nazis, meine Vorfahren, stärker als du? Was ist schlimmer? Von dir verstoßen zu sein oder glauben zu müssen, dass du selbst besiegt bist? Die Zweifel krochen ihnen und kriechen mir unter die Haut:
(I) Das Wasser stand mir bis zum Hals.
Fluten der Urzeit umgaben mich.
Seetang schlang sich mir um den Kopf.
Zum Grund der Berge bin ich hinabgestiegen,
in das Reich hinter den Toren des Todes.
Sie sollten für immer hinter mir zugehen.
(II) Aus. Vorbei. Jede Hoffnung erstickt. Die Tore bewacht, der Drahtzaun unter Strom, die Todeskammern luftdicht verschlossen. Aus. Vorbei.
Wie damals, zur Zeit der Makkabäer. Als auch alles zu Ende schien. Und nur noch ein Tropfen Öl da war. Ein Tropfen. Für einen Tag. Das war schon ein Wunder, dieser eine Tropfen Öl. Und dann geschahen Wunder über Wunder: das Öl ging nicht aus, jeden Tag konnte ein neues Licht entzündet werden. Es wurde hell.
(I) Du aber hast mein Leben aus dem Abgrund gezogen,
du Herr, du bist ja mein Gott.
Als ich am Ende war,
erinnerte ich mich an den Herrn.
Mein Gebet drang durch zu dir,
bis in deinen heiligen Tempel.
(II) Das eigentliche Wunder war, dass überhaupt noch Licht da war. Dass überhaupt einige gerettet wurden. Dass überhaupt wieder Leben möglich wurde, Leben, das mehr war als überleben. Der Staat Israel wurde gegründet. Für eine Weile, für ein paar Jahrzehnte schien auch das Land der Feinde und Feindinnen, unser Land, zum Land der Freunde und Freundinnen zu werden, schien das Totenreich zum Raum des Lebens und neuer Heimat zu werden.
(III) Ich lobe den Herrn aus tiefstem Herzen.
Alles in mir jubelt vor Freude
über Gott, meinen Retter.
Denn er wendet sich mir zu,
obwohl ich nur seine unbedeutende Dienerin bin.
Von jetzt an werden mich alle Generationen
glückselig preisen.
Denn Gott, der mächtig ist, hat Großes an mir getan.
(II) Synagogen wurden wieder gebaut. Und aus den Ruinen der einstmals verbrannten Gotteshäuser wurden Gedenkstätten.
Die Kirchen taten Buße und kehrten um und veränderten ihre Theologie und treten öffentlich ein gegen Antisemitismus.
Aber die Sicherheit war trügerisch und die Zeiten haben sich wieder geändert.
Feindschaft kam zurück. Antisemitismus nimmt zu. Juden und Jüdinnen fühlen sich nicht mehr sicher und nicht mehr willkommen in Deutschland, das oft ihre Heimat ist. Und ich, ich würde so gerne sagen: Doch! Ihr gehört hierher, dieses Land gehört euch so gut wie allen, die hier leben, niemand wird euch etwas tun! Und die Worte bleiben mir im Halse stecken. Und ich rufe zu Adonaj, zu Gott:
(III) Sein Name ist heilig.
Er ist barmherzig zu denen, die ihm Ehre erweisen – von Generation zu Generation.
Er hebt seinen starken Arm
und fegt die Überheblichen hinweg.
Er stürzt die Machthaber vom Thron
und hebt die Unbedeutenden empor.
Er füllt den Hungernden die Hände mit guten Gaben
und schickt die Reichen mit leeren Händen fort.
Er kommt seinem Diener Israel zu Hilfe
und erinnert sich an seine Barmherzigkeit.
So hat er es unseren Vorfahren versprochen:
Abraham und seinen Nachkommen für alle Zeit!«
(II) Ja, du, Gott, hast es versprochen, dass du Israel zu Hilfe kommst. Deinem erwählten Volk, zu dem du deine Kirche hinzuerwählt hast. Du hast es versprochen.
Und trotzdem sind da die Zweifel: Wo bist du? Warum geschieht, was geschieht? Wieder schlagen Wellen und Wogen über uns zusammen, wieder droht Krieg, es ist Krieg in Israel und kein Friede und die einen wie die anderen wollen recht haben und siegen und in Sicherheit leben. Und töten einander. Und vergessen dich, Adonaj.
(I) Ja, wer sich an Nichtigkeiten klammert,
verliert seinen einzigen Halt im Leben.
(II) Was ist wichtig? Was ist nichtig? So schwer zu sagen, gar nicht zu sagen über ein anderes Land, über eine andere Situation, über das Leben anderer.
Nur eins: Wieder die Hoffnung, weil noch etwas Licht da ist; wieder das Wunder, dass noch Licht da ist, und das Vertrauen, dass wieder Wunder über Wunder geschehen und Leben möglich bleibt, Leben, das mehr ist als Überleben, Leben ohne bewachte Tore und elektrische Zäune und vor allem ohne Todeskammern, das vor allem! Leben ohne Angst für alle. In Israel für alle, denen das Land Heimat ist. In Europa für alle, die für Freiheit und Vernunft und Menschenrechte eintreten. In der ganzen Welt für alle deine Geschöpfe, die Barmherzigkeit brauchen, um leben zu können.
(I) Ich aber will dir mit lauter Stimme danken,
Schlachtopfer will ich dir darbringen.
Auch meine Gelübde werde ich erfüllen.
Hilfe findet sich beim Herrn!
(II) Hilfe findet sich bei dir. Hebe deinen starken Arm und rette. Und erinnere uns daran, unsere Gelübde zu erfüllen!
Bibeltext Stimme I: Lied des Jona im Bauch des Fisches, Jona-Buch; Texte Stimme II: Ilka Werner; Bibeltext Stimme III: Magnificat, Lukas-Evangelium