Liebe Solingerinnen und Solinger!
Mir fällt es in diesem Jahr nicht leicht, hier zur reden.
Nicht, weil ich nicht mehr laut und öffentlich gegen Antisemitismus eintreten möchte – nein, gegen Antisemitismus einzutreten ist mir so wichtig wie eh und je: es ist schlicht nicht hinzunehmen, wenn Jüdinnen und Juden aufgrund ihres Jüdisch-Seins diskriminiert werden oder angegriffen, weil ihnen die Politik der israelischen Regierung vorgeworfen wird.
Ich möchte aber gegen so viel anderes Unrecht auch eintreten: gegen den Krieg in Gaza, der sich nach dem Überfall und Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, also vor fast einem Jahr, entwickelt hat; und gegen die humanitäre Katastrophe dort. Und gegen den islamistischen Terror, der Solingen in diesem Jahr am 23. August getroffen hat.
Ich weiß aber: Mein Eintreten gegen das eine verletzt oft die, die vom Anderen getroffen werden. Ich weiß auch: Ich kann nicht alles Unrecht in einen Topf werfen, weil ich dann verharmlose und ohne es zu wollen mithelfe, Ursachen und Motive zu verschleiern.
Mir hilft die biblische Erzählung von zwei mutigen, widerständigen Frauen weiter. Schifra und Pua.
Ich weiß nicht, ob Sie sie kennen: Beide sind hebräische Hebammen, in der Zeit, von der die Bibel erzählt, dass Israel in Ägypten Frondienst tut. Pharao, der ägyptische Herrscher, möchte die Fremdlinge loswerden und befiehlt, die neugeborenen jüdischen Jungs zu töten. Schifra und Pua widersetzen sich und machen das nicht. Sie sind ihrem Volk und Glauben verpflichtet! Wie könnten Sie die Kinder ihres eigenen Volkes umbringen? Sie leisten Widerstand gegen Antisemitismus!
Schifra und Pua sind nicht nur Hebräerinnen, sie sind auch Hebammen und so besonders dem neuen Leben, dem am Leben halten verpflichtet. Wie könnten Sie neugeborene Kinder sterben lassen? Sie leisten Widerstand gegen den Befehl zu töten oder sterben zu lassen, gegen jede humanitäre Katastrophe!
Schifra und Pua sind Hebräerinnen und Hebammen. Und sie sind unabhängige Frauen. Sie sind ihrem Gewissen verpflichtet. Wie könnten sie mörderischen Befehlen folgen? Sie leisten Widerstand gegen den Versuch, ihre Freiheit und Integrität zu untergraben.
Diese beiden Frauen gehören zu meinen Vorbildern: Sie widerstehen dem Antisemitismus ihrer Zeit. Sie widerstehen der Unmenschlichkeit ihrer Zeit. Und sie bewahren ihre innere Freiheit, indem sie nur ihrem eigenen Gewissen gehorchen.
Ich will es machen wie sie: dem Antisemitismus meiner Zeit widerstehen. Aber mich auch weigern, Krieg und Töten und humanitäre Katstrophen für nötig oder selbstverständlich zu halten. Und ich will in meinem Gewissen frei bleiben und laut widersprechen, wenn rechtsextreme Parolen bei vielen verfangen und Gehör finden.
Ich löse das Dilemma unserer Zeit nicht.
Aber wenn ich Schifra und Pua folge, gibt es eine Perspektive, in der Widerstand gegen Antisemitismus und gegen Krieg und Sterben lassen und gegen den Angriff auf unabhängige Gewissen zusammengesehen werden können.
Und: Das Wissen um Schifra und Pua verdanken wir jüdischen Männern und Frauen, die ihre Geschichte weitererzählt haben durch die Zeiten hindurch und schließlich aufgeschrieben und den heiligen Schriften hinzugefügt haben. Ohne diese jüdische Treue zur eigenen Geschichte wüssten wir nicht von ihnen.
Für diese Treue bin ich als Mensch von heute von Herzen dankbar.