„Hier bin ich!“ Rundfunkgottesdienst aus der Stadtkirche Mitte in Solingen

Verantwortung übernehmen an dem Ort, an dem ich lebe. Persönlich einstehen für die Geschichte der Stadt, die mein Zuhause ist. Gottes Auftrag im Alltag nachkommen.

Acht Tage vor dem 30. Jahrestag des Brandanschlags auf das Haus der Familie Genc thematisiert der Gottesdienst aus Solingen, wie der christliche Glaube in die Verantwortung für die Heimatstadt und alle ihre Bewohnerinnen und Bewohner führt. Biblischer roter Faden ist die Erzählung von der Berufung Samuels im ersten Samuelbuch und die Bereitschaft des jungen Propheten, Gottes Wort zu folgen.

Superintendentin Dr. Ilka Werner hielt die Predigt, Pfarrerin Friederike Höroldt und Pfarrer Christian Lerch führten durch die Liturgie und Daniela Tobias, Gabi Bergfeld und Ioanna Zacharaki verankerten die Botschaft des Samuelbuches mit ihren Statements in unserer Zeit. Musikalisch gestaltet wurde der Gottesdienst vom Gospelchor der Gemeinde Solingen-Ohligs unter Leitung von Birgit Rhode und Ralf Eumann an der Orgel.

Eingangsmusik (Orgel): Joh. Seb. Bach: „Christ lag in Todesbanden“ (aus dem Orgelbüchlein)

Liturgischer Gruß

Wir sind zusammen im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Quelle, die belebt, Wahrheit, die befreit, Kraft, die erneuert. Amen.

Thema – Hier bin ich! Verantwortung in der Stadt, in der ich lebe – Wo sind Sie?

„Hier bin ich!“ ist unser Thema. „Hier bin ich!“ das sage ich zuerst einmal mir selbst. Hier. In genau dieser Stadt. In genau dieser Situation. In genau dieser Lebensphase und diesem Umfeld. Mit meinen Möglichkeiten und meiner Verantwortung.

„Hier bin ich!“ das sage ich meinem Gegenüber. Hier bin ich mit meinem Standpunkt. Meinen Vorannahmen und Erfahrungen. Mit meiner Neugier und Offenheit.

„Hier bin ich!“ das sage ich zu Gott. Mit meinem Glauben und meinem Zweifel. Mit der Bereitschaft, zu hören. Und dem Vertrauen, dass Gott mich hört.

Hier bin ich. Und du? Wo bist du?

Gebet – Wir vor Gott und Bitte um den Heiligen Geist

Guter Gott, hier sind wir. Mit allem, was wir mitbringen. Aus unserem Leben, aus den zurückliegenden Tagen. Mit allem, was gelungen, und allem, was misslungen ist. Mit allem, worüber wir uns gefreut haben, und allem, worüber wir erschrocken sind. Mit allem, was wir bedauern, und allem, wofür wir dankbar sind

Hier sind wir. Und wir erwarten, dass auch du da bist. Dass du uns hörst und uns etwas zu sagen hast. Sei bei uns. Sprich zu uns. Sende uns deinen Heiligen Geist. Amen.

Gemeindelied: (EG 452) Er weckt mich alle Morgen (1-3)

Wo wir sind: in Solingen; und was wir jetzt vorhaben ….

„Hier bin ich“, das heißt für mich: Ich lebe in Solingen. In der kleinen Großstadt im Bergischen Land. In der Klingenstadt. Mit unzähligen Herstellern von Klingen und Besteck. Hier bin ich – mit dem, was zu tun ist. Hier bin ich – mit dem, was es zu entdecken gibt. Hier bin ich – auch in der Historie dieser Stadt.

Wir denken in diesen Tagen an den rassistischen Brandanschlag, der sich hier vor 30 Jahren ereignet hat. Das dreistöckige Haus, das Gerippe des ausgebrannten Dachstuhls, die Trauer und das Entsetzen, das sind Bilder, die sich bei den meisten ins Gedächtnis eingebrannt haben.

Im Laufe des Gottesdienstes werden wir einige Beispiele hören, was diese Stadt heute bewegt und was in dieser Stadt bewegt wird. Von Menschen, die mit dem Satz „Hier bin ich“ Verantwortung übernehmen. Für das, was diese Stadt an Geschichte und Prägung mitbringt. Für das Hier und Jetzt. 

Und wir hören die biblische Geschichte von dem jungen Samuel. Er wird von Gott gerufen. Auf ihn wartet eine Aufgabe. Und er lässt sich in Anspruch nehmen. Mit einem einfachen Satz:  „Hier bin ich.“

Psalm in drei Stimmen (nach Psalm 57) (mit Musik unterlegt)

(I) Hab Erbarmen mit mir, Gott, hab Erbarmen! Denn bei dir habe ich Zuflucht gesucht.

(II) Im Schatten deiner Flügel fühle ich mich sicher, während das Unheil vorüberzieht.

(III) Das Unheil zog nicht vorbei vor 30 Jahren. Es zog nicht vorbei in Hoyerswerda, in Hünxe, in Rostock, in Mölln, in Solingen. Das Unheil zog nicht vorbei für Saime, Hülya und Gürsün, für Hatice und Gülüstan.

(I) Ich rufe zu Gott, dem Höchsten, zu Gott, der zu meinen Gunsten handelt.

(II) Vom Himmel her wird er mir seine Hilfe schicken, auch wenn mein Verfolger mich schmäht.

(III) Mein Verfolger schmäht mich bis heute. Schmäht mich, beleidigt mich, verfolgt mich, bedroht mich. Das Unheil zieht noch immer nicht vorbei. Immer noch werden Menschen ermordet aus rassistischen Motiven. In diesem Land.

(I) Ich rufe zu Gott, dem Höchsten, zu Gott, der zu meinen Gunsten handelt.

(II) Wo bist du, Gott? Wo ist der Schatten deiner Flügel? Wo ist Sicherheit für mich? Hab Erbarmen mit mir, Gott, hab Erbarmen!

(I) Erhebe dich Gott, über den Himmel, über die ganze Erde in deiner Herrlichkeit.

(II) Lass mich sicher sein im Schatten deiner Flügel, während das Unheil vorbeizieht

(III) Lass das Unheil vorbeiziehen, heute. Weise in die Schranken, die mich verfolgen, heute. Stärke, die zu mir stehen, die gegen Rassismus aufstehen, heute. Handle zu meinen Gunsten, heute. Wir erinnern uns an Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Mölln und Solingen. Wir denken an Saime, Hülya und Gürsün, Hatice und Gülüstan. Hilf uns dabei.

(I) Erhebe dich Gott, über den Himmel, über Solingen im Bergischen Land,

(II) Über die ganze Erde in deiner Herrlichkeit. Hab Erbarmen mit uns, Gott, hab Erbarmen!

Chorlied: Prayer for the city

Predigt I

Liebe Gemeinde,

die einen sind hier geboren und aufgewachsen. Die anderen sind zugezogen, aus der Umgebung, von weiter weg, aus dem Ausland. Manche sind hierher geflohen. Aber jetzt sind sie alle Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt, und die Geschichte dieser Stadt ist ihre eigene Geschichte geworden.

So ist es hier in Solingen und bestimmt auch da, wo Sie zuhause sind, liebe Hörerin, lieber Hörer. In Hamburg oder Dortmund, in Fulsbüttel oder Hückelhoven. Auf dem Land oder in der Stadt. Menschen werden heimisch, sie lernen die Geschichte des eigenen Ortes kennen und stellen sich der Verantwortung, die diese Geschichte mitbringt.

In Solingen übernehmen viele Mitverantwortung für das Geschehen des 29. Mai 1993. Das ist der Tag, an dem junge Solinger einen rassistischen Brandanschlag auf das Haus der Familie Genc verüben, dem fünf junge Frauen und Mädchen zum Opfer fallen. Durch den vierzehn weitere Familienmitglieder böse Verbrennungen erleiden, die auch nach vielen Operationen noch schmerzen.

Das Haus der Familie brannte damals völlig aus. Das Bild der Brandruine ging durch alle Medien, und mit jedem Jahrestag wird es wieder gezeigt. In den Tagen nach dem Anschlag war Solingen zerrissen von Entsetzen, Scham und Leugnung. Viele hatten Angst vor den durch die Stadt ziehenden Randalierern von anderswoher.

„Hier bin ich“ – das haben viele in den Wochen und Monaten danach gesagt. Sie haben aus dem Schrecklichen den Ruf gehört, sich dafür einzusetzen, dass so etwas nie wieder geschieht. Sie haben die Botschaft gehört, dass so etwas nicht von Nichts kommt, sondern einen Nährboden hat. Seitdem setzen sie sich für Toleranz und Zivilcourage ein.

„Hier bin ich“ sagen in den Jahren danach viele, die nach Solingen ziehen. Aus den Erzählungen hören sie den Auftrag, selbst etwas beizutragen zu einer respektvollen Atmosphäre in der Stadt, die allen Luft zum Atmen gibt.

„Hier bin ich“ sagen bis heute immer wieder viele Männer und Frauen in Solingen und wenden sich gegen Diskriminierung und Gleichgültigkeit, gegen Wegschauen und Achselzucken. Sie sind da, sichtbar, auf den Straßen und Plätzen und an den Mahnmalen, und stehen öffentlich ein für ihre Stadt und eine Menschenfreundlichkeit, die sie ausstrahlen soll.

„Hier bin ich“ sagen drei Frauen, die wir eingeladen haben, von ihrer Verantwortung in der Stadt zu erzählen:

Musik oder Refrain von Here I am

Statement 1 (Gabi Bergfeld)

Ich bin Gabriele Bergfeld und engagiere mich u.a. im Café Herzenswärme in der Solinger Innenstadt. Das ist ein Gemeinschaftsprojekt der Kirchengemeinden Stadtkirche und Dorp.

Mir ist wichtig, in Verbundenheit zu leben, oder, anders ausgedrückt, in Verbindung zu bleiben. Dann weiß ich, warum und woraufhin ich lebe. In unserer Dorper Kirche steht über dem Altarraum der Vers „Alles und in allen Christus“. Das bedeutet für mich: Wir haben ein erfülltes Leben, wenn wir Bindungen eingehen. Wenn wir in Verbindung zueinander gehen, uns sehen, Anteil nehmen. Wenn wir füreinander da sind, tut das den anderen gut und mir selbst auch.

Woher ich das weiß? Es ist meine Erfahrung! Wenn ich im Café Herzenswärme mitarbeite, erlebe ich dort tatsächlich einen besonderen Wärmestrom, so wohltuend, wirklich ein Geschenk. Es gibt immer leckere Suppe und Kuchen, und doch ist es so viel mehr! Begegnungen mit Menschen, die ich sonst wohl nicht getroffen hätte, freundliche Gespräche, musikalische Beiträge von Gästen, ganz viel Dankbarkeit – das ist schön und macht Sinn! In meinem Poesiealbum aus den 60-er Jahren steht: Willst du glücklich sein im Leben, trage bei zu andrer Glück, denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigene Herz zurück! Hier erfüllt sich das für mich.

Dass allerdings in unserem reichen Land die Güter immer ungleicher verteilt sind, ist eine Schande! Und da müssen wir Kirchenleute zweigleisig unterwegs sein:  Dem Einzelnen helfen UND laut und kräftig die Stimme für Gerechtigkeit erheben. Jesus hat es uns schließlich vorgemacht!

Musik oder Refrain von Here I am

Statement 2 (Daniela Tobias)

Ich bin Daniela Tobias und ich bin Vorsitzende des Vereins Max-Leven-Zentrum Solingen. Wir unterstützen das Stadtarchiv beim Aufbau einer Bildungs- und Gedenkstätte. Sie erinnert an den Widerstand insbesondere aus der Arbeiterbewegung gegen den Nationalsozialismus. Ein Anliegen ist es, aus den Erfahrungen von damals zu lernen, um unsere heutige Demokratie besser zu schützen.

Verantwortung für das Miteinander in unserer Stadt zu übernehmen, bedeutet auch, der Opfer des NS-Systems zu gedenken. Denn ein Ziel der Nazis war es, sogenannte „Volksschädlinge“ nicht nur physisch zu vernichten, sondern auch die Erinnerung an diese Menschen zu tilgen.

So war es bis 2011 auch mit dem Urgroßvater meiner Kinder. Über ihn wurde in der Familie meines Mannes nie gesprochen, zu groß der Schmerz und auch die Scham, dass der jüdische Ehemann einer Christin ermordet wurde. Durch meine Recherche haben wir Verwandte in den USA und in Israel, aber auch hier im Rheinland gefunden, die ebenfalls wissen wollten, was damals mit ihren Vorfahren passiert ist und woher sie stammen.

Auch für die Nachfahren derjenigen, die Widerstand gegen das NS-Regime geleistet haben, ist es wichtig, dass der Einsatz dieser mutigen Menschen gewürdigt wird, denn für viele Familien hat die Stigmatisierung nach dem Krieg fortgewirkt. Die Spur von Heinz Leven, dem einzigen überlebenden Sohn von Max Leven, verliert sich 1954. Vielleicht meldet sich irgendwann eine Urenkelin des Juden und Kommunisten und kann uns seine Geschichte erzählen.

Musik oder Refrain von Here I am

Statement 3 (Ioanna Zacharaki)

Ich bin Ioanna Zacharaki. Soziales Engagement ist für mich selbstverständlich und gehört zu einem sinnerfüllten Leben jedes Menschen! Diesen Grundsatz habe ich als Kind in der Erziehung verinnerlicht. Die humanistische Bildung und der christliche Glaube lehrten mich in der Kindheit die Bedeutung des sozialen Engagements. Ich bin in Griechenland geboren und aufgewachsen. Nach meinem Abitur kam ich nach Deutschland, schließlich nach Solingen. Hier bin ich nun und sehe es auch hier als meine Pflicht, mich für das Gemeinwohl einzusetzen und fühle mich auch dazu berufen. So bin ich seit 1999 Ratsmitglied der Stadt Solingen und seit 2020 Bürgermeisterin. Dazu gehört auch viel Engagement in der Vereinsarbeit, in Solingen und europaweit. Sich zu engagieren, das hat für mich keine geografischen Grenzen. Da, wo ich Bedarfe sehe und Hilferufe höre, schöpfe ich die Möglichkeiten aus, etwas zu tun. Ich engagiere mich in der Frauenarbeit, mit dem Internationalen Frauenzentrum in Solingen wird Frauen in Not geholfen. die Begegnung und der Austausch von Ehrenamtlichen in einem europaweiten Netzwerk von Ratsmitgliedern ist mir wichtig. So schaffen wir ein respektvolles Miteinander. Ich engagiere ich mich zusammen mit meinem Mann in der Flüchtlingshilfe auf Lesbos. Die Insel liegt mir besonders am Herzen, weil unsere Familie dort ihre Wurzeln hat. Durch unsere persönlichen Verbindungen in Solingen und auf Lesbos können wir wirksame Hilfe vermitteln.

Chorlied: Here I am

Predigt II (mit Lesung)

„Hier bin ich“. Wenn Menschen sich gesellschaftlich engagieren, folgen sie oft einer inneren Stimme oder einer Art Berufung. Manchmal spielt auch der Glaube eine Rolle. Der Predigttext, der für den heutigen Sonntag vorgeschlagen ist, steht im ersten Buch Samuel, im dritten Kapitel. Er erzählt von der Berufung des jungen Propheten Samuel, und auch davon, wie schwer es ist, Gottes Stimme zu erkennen.

1. Sam 3, 1-10 – ÜS Basisbibel

Der junge Samuel tat Dienst für den Herrn unter der Aufsicht des Priesters Eli. Zu dieser Zeit kam es nur noch selten vor, dass der Herr ein Wort mitteilte. Weit und breit gab es auch keine Vision mehr.

Eines Tages geschah Folgendes: Eli war bereits zu Bett gegangen. Seine Augen waren im Alter schwach geworden, sodass er kaum noch etwas sehen konnte. Samuel aber legte sich im Tempel des Herrn hin, wo die Lade Gottes stand. Die Lampe Gottes brannte noch.

Da rief er Herr den Samuel. Der antwortete: „Hier bin ich!“

Schnell lief er zu Eli hinüber und sagte: „Ja, hier bin ich, du hast mich gerufen.“

Eli erwiderte: „Nein, ich habe dich nicht gerufen. Zurück ins Bett!“

Da ging er zurück und legte sich schlafen.

Doch der Herr rief noch einmal: „Samuel!“

Wieder stand Samuel auf, lief zu Eli und sagte: „Ja, hier bin ich, du hast mich gerufen.“ Er antwortete: „Nein, ich habe dich nicht gerufen. Zurück ins Bett, mein Sohn!“

Samuel aber erkannte nicht, dass der Herr ihn gerufen hatte. Denn er hatte noch nie ein Wort des Herrn erhalten. Der Herr rief den Samuel ein drittes Mal. Wieder stand er auf, ging zu Eli und sagte: „Ja, hier bin ich, du hast mich doch gerufen.“ Da merkte Eli, dass der Herr den Jungen rief. Eli sagte zu Samuel: „Leg dich wieder hin! Und wenn er dich nochmal ruft, denn antworte: Rede, Herr, dein Knecht hört!“ Samuel legt sich wieder hin an seinen Platz.

Da kam der Herr und trat zu ihm hin. Er rief wie die anderen Male: „Samuel, Samuel!“ Und Samuel antwortete: „Rede, dein Knecht hört!“.

Da wird erzählt von einer Zeit, in der Gott nur noch selten redet. Und in der es weit und breit keine Visionen mehr gibt. So war es damals schon. Wo wir doch manchmal denken, dass es vor vielen hundert Jahren so viel einfacher gewesen sein muss, Gott zu hören und an ihn zu glauben. Offensichtlich stimmt das nicht.

Der Text hält es gleich zu Anfang fest, und so ist es verständlich, dass der junge Samuel den Ruf Gottes nicht erkennt, sondern für die Stimme seines Lehrers Eli hält. Drei Mal.

Eli ist es schließlich, der erkennt, dass Gott im Spiel ist. Er sagt Samuel, wie er antworten soll.

Auch unsere Zeit ist eine Zeit, in der Gott nur selten redet. Oder in der wir es nicht mehr verstehen, Gottes Stimme zu erkennen. Viele hören Gott nicht, und der Glaube ist brüchig geworden. Die meisten haben so viel um die Ohren, da fehlt die Konzentration, da fehlt die Bereitschaft, zuzuhören oder angestrengt zu lauschen, da fehlt das Verstehen, und vielleicht ist da auch gar nichts zu hören.

Und trotzdem fühlen sich viele von uns gerufen, sogar berufen. Und sagen „Hier bin ich“ in ihrer Zeit und an ihrem Ort. Sie übernehmen an irgendeiner Stelle Verantwortung.

Manche führen ihr Engagement auf Gott und ihren Glauben zurück, manche nicht. Aber alle treten sie für etwas ein, was über ihre eigenen Interessen hinausgeht und dem Wohle aller dient. Sie lassen sich aufrütteln von den Schicksalen einzelner Menschen und kämpfen für eine Welt, in der diese Schicksale von Bedeutung sind. Sie verteidigen eine Ordnung, in der das Recht gilt und Mitbestimmung etwas bewirkt. Sie spüren, wie gefährdet das alles ist und lassen sich in die Verantwortung rufen.

In dem, was sie tun, ist für mich ein Echo der Stimme Gottes hörbar. Ein Echo aus den Zeiten, in denen Gott viel geredet hat und in denen viele Menschen seine Stimme hörten. Und danach handelten. Zeiten, in denen mutige Hebammen sich dem Befehl des Pharao, neugeborene hebräische Jungen zu töten, widersetzten. In denen Mose Gott bittet, dem murrenden und aufmüpfigen Volk zu vergeben. In denen Jesus Blinde und Gelähmte heilt und das Brot teilt mit so vielen, die nur wenig haben. Wir könnten die Kette durch die Jahrhunderte hindurch verfolgen. Immer wieder ist im mutigen und engagierten Handeln von Menschen das Echo der Stimme Gottes hörbar, seine Botschaft von Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Ob es ihnen bewusst ist oder nicht.

Orgel/Instrumental: Sonne der Gerechtigkeit

Predigt III

Samuels Geschichte, seine Berufung, fordert uns noch auf ganz andere Weise heraus. Der Auftrag, den er schließlich von Gott bekommt, ist nämlich schwierig und geht ihm menschlich gegen den Strich. Er muss der Familie seines Lehrers Eli ankündigen, dass es mit ihr zu Ende geht und dass Gott sie strafen wird.

Eine Gerichtsbotschaft.

Das Wort Gottes, das Samuel letztlich erkennt, ist keine allgemeine Aufforderung, sich zu engagieren, sondern ein konkretes, strafendes Wort. Er soll anderen ausrichten: Ihr habt falsch gelebt.

Als er „Hier bin ich“ sagt, hat er davon keine Ahnung. Aber er ist bereit, zu hören und sogar zu gehorchen.

Damit bekommt das „Hier bin ich“ eine Tiefendimension, die hinausgeht über zivilgesellschaftliches Engagement und den Einsatz für etwas, das nicht nur die eigenen Interessen betrifft. Eine Tiefendimension, die da hinführt, wo es weh tut, wo das Hören uns auf unangenehme Wahrheiten stößt, und wo das, was wir hören, uns in eine Schuldgeschichte hineinzieht.

Eine Tiefendimension, in der wir wirklich Gottes Stimme hören. Mehr als ein Echo. Wirklich Gottes Stimme. Die wir wahrscheinlich nicht gleich erkennen, wie damals Samuel. Weil es ja nicht so oft vorkommt in unseren Zeiten, dass Gott redet und wir seine Stimme vielleicht zum ersten Mal hören. Möglicherweise muss uns auch jemand darauf hinweisen, so, wie Samuel von Eli darauf hingewiesen wird. Aber wenn wir ganz hörbereit sind und sagen: „Hier bin ich“, kann es geschehen – und warum sollte es nicht irgendwann bei uns geschehen? – dann kann es geschehen, dass wir Gottes Stimme hören.

Und es kann sein, dass diese Gottesstimme etwas sagt, was weh tut, was schwierig ist und was uns in eine Schuldgeschichte hineinzieht. Es kann sein, dass diese Gottesstimme sagt: Ihr lebt falsch. Punkt.

Ihr lebt falsch.

Wenn wir das hören, glauben wir vielleicht zunächst, dass wir uns verhört haben. Kann das denn sein, dass Gott, der liebe Gott, das so gesagt hat? Einfach so: Ihr lebt falsch. Punkt, und nichts Abschwächendes mehr dazu? Es kann sein, dass wir dreimal meinen, uns verhört zu haben, dreimal, und dass wir es erst dann realisieren, dass es Gottes Stimme ist, die wir hören, ganz klar und bestimmt hören durch all den Lärm und die Stimmen dieser Welt hindurch, Gottes Stimme, die sagt: Ihr lebt falsch. Punkt.

Es wird schwer sein, dann nicht zu argumentieren und zu widersprechen und zu sagen: Aber das kannst du so nicht sagen, Gott, vielleicht schwächeln wir ab und zu, aber im Großen und Ganzen geben wir uns doch Mühe, bitte, das musst du doch anerkennen, und was können wir allein schon ausrichten? Es wird schwer sein, diesen einen Satz zu hören und zu schweigen, ihn auszuhalten und nicht geschwätzig zu werden.

Ihr lebt falsch. Punkt.

Was heißt es, diesen Satz auszuhalten?

Es heißt, ihn nicht zu verrechnen mit all dem Guten, das wir tun, wenn wir Verantwortung übernehmen in unserer Zeit und unserer Stadt, wenn wir sagen: „Hier bin ich“, so, wie wir es in diesem Gottesdienst entfaltet haben. Dieses Gute bleibt, und bleibt stehen und bleibt gut und lässt sich doch nicht verrechnen mit Gottes Wort, das sagt, so geht es nicht weiter und ihr müsst umkehren, denn ihr lebt falsch.

Diesen Satz auszuhalten heißt auch, nicht aufzuzählen, was uns alles abhält von ehrlicher Buße und konsequenter Veränderung. Diese Gründe sind da, und sie bleiben, und trotzdem, wenn wir sie auf die Waagschale legen, wiegen sie Gottes Wort nicht auf, das sagt, tut Buße, fangt neu und ganz anders an, denn ihr lebt falsch.

Diesen Satz auszuhalten heißt einfach, ihn zu hören und wieder zu hören und ihn einsinken zu lassen in unseren Kopf und in unser Herz, immer tiefer, und nach ganz vielen Stunden oder Tagen spüren, dass er stimmt, dieser Satz.

Und ein letztes gehört dazu, dieses Wort auszuhalten: Nach langem Nachdenken zu antworten, auf dieses Wort zu antworten und zu sagen: „Hier bin ich“. Nicht auszubüxen und nicht zu relativieren, nur sagen: „Hier bin ich“.

Hier bin ich, und ich antworte dir, Gott, und ich verantworte das, was schiefläuft in der Welt, was wir Menschen falsch gemacht haben und falsch machen. Ich verantworte das, auch wenn ich persönlich keine Schuld daran habe. Ich übernehme die Verantwortung, weil ich verstrickt bin in das, was falsch ist und Leben zerstört und dem Hass einen Nährboden gibt, weil ich verstrickt bin in Ungerechtigkeit und Gleichgültigkeit und weil ich gefragt bin: Was tust du dagegen? Ich sage nicht, dass es doch mal gut sein muss und dass ich als Einzelne doch nichts ausrichten kann, nein, das sage ich nicht, ich sage: Ja, ich tue, was ich kann, hier bin ich.

Manchmal kommt es auch in unseren Zeiten vor, dass Gott ein Wort sagt. Und manchmal kommt es vor, dass ein Mensch unter uns es hört. Und aushält und weitersagt. Wenn das geschieht, erkennen wir vielleicht für einen Moment, wie tiefgreifend wir unser Leben ändern müssen. Und sagen ganz bewusst: „Hier bin ich!“ Bereit, zu hören, zuzuhören und lange nachzudenken. Und dann noch einmal zu sagen: „Hier bin ich! Sag mir, was ich tun soll!“

Amen.

Gemeindelied: (EG 432) Gott gab uns Atem damit wir leben

Fürbitten

Gott, wir beten für alle, die an ihrem Ort einstehen für das, was Ihnen wichtig ist. Wir beten für die, die Räume öffnen und Hände reichen, damit Menschen sich begegnen können. Wir beten für die Menschen in den Treffs für Geflüchtete und in den Wärmestuben, in den Gesprächskreisen und an den Gedenkstätten und an vielen anderen Orten, wo Menschen aufeinander zugehen. Lege auf ihr Miteinander Deinen Segen.

Gott, wir beten für alle, die an ihrem Ort an schweren Erinnerungen zu tragen haben. Wir beten für die, die trauern um Saime, Hülya, Hatice, Gürsün und Gülüstan aus Solingen. Wir beten für alle, die jemanden hergeben mussten, den sie liebten. Wir beten für die, die für die Trauernden da sind. Die ihnen Halt und Trost waren und sind. Hilf uns empfindsam zu bleiben, damit wir hier und überall respektvoll miteinander umgehen.

Gott, wir beten für alle, die an ihrem Ort müde geworden sind durch die großen Krisen und die täglichen Herausforderungen. Wir beten für die, die viel gegeben haben und sich jetzt leer fühlen. Wir beten für alle, denen gerade die Kraft fehlt für sich und für andere. Lass sie Pausen machen ohne schlechtes Gewissen. Lass sie Kraft sammeln und Hoffnung finden, dass es anders werden kann und dass Hilfe unterwegs ist.

Vater Unser

Gemeindelied: (EG 607, 1-3) Herr, wir bitten komm und segne uns…

Segen

Chorlied: Peace shall be with you

Orgelnachspiel: Felix Mendelsohn Bartholdy: 2. Satz der 4. Orgelsonate