Die evangelische Kirche als „Lobbyistin der Gottoffenheit“

(leicht überarbeiteter Vortrag in der ACK Aachen – Dr. Ilka Werner, 2023)

Zu Ostern 2022 lag die Zahl der Mitglieder der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland erstmals unter 50 % der Gesamtbevölkerung. Damit erreichte der seit Jahrzehnten anhaltende und sich in den letzten Jahren deutlich beschleunigende Mitgliederschwund eine neue Qualität.

Die Kirchen verlieren nicht nur Mitglieder, sondern auch an Bedeutung: ihre Stimme wird bei wichtigen Themen und in gesellschaftlichen Debatten in der Öffentlichkeit zunehmend weniger gehört. Sie scheint aber auch zunehmend weniger laut und deutlich erhoben zu werden.

Während der Corona-Pandemie wurde die kirchliche Stimme einerseits öffentlich vermisst, andererseits wurde das, was gesagt wurde, vielfach nicht wahrgenommen. Und die einzelnen kirchlichen Stimmen verstärkten sich gegenseitig nicht zu einer lauten, klaren Botschaft. Die organisatorische Vielfalt der Kirchen macht es schwer, in der aktuellen Medienlandschaft durchzudringen. Anlässlich des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine war die – erstaunlich wenig profilierte – Stimme der christlichen Friedensethik überregional kaum zu hören und erzeugte wenig Resonanz – weniger jedenfalls als die merkwürdigen Einlassungen des orthodoxen Nationalisten Kyrill.

Innerhalb der kirchlichen Synoden und Gremien orientieren sich die Debatten aktuell oft eher an der Frage der medialen Wirksamkeit und wenig an einer theologischen Einschätzung der Sachlage.

Der Relevanzverlust der Kirchen und kirchlicher Verlautbarungen wirft so nach innen und außen die Frage nach der Rolle der Kirchen in der Öffentlichkeit für unsere Zeit neu auf.

Im Januar 2021 hat die Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland ein Impulspapier unter dem Titel „Lobbyistin der Gottoffenheit“ beschlossen und veröffentlicht, das den öffentlichen Auftrag und das öffentliche Auftreten der zukünftigen ‚Minderheitskirche‘ zum Thema hat. Die Verfasser:innen möchten ausdrücklich dazu ermutigen, die sich verändernde öffentliche Rolle von Kirche theologisch orientiert, sozial sensibel und persönlich mutig und motiviert auszugestalten.

Hier soll der Text in seinen Hauptgedanken referiert (I.) und dann aus meiner jetzigen Sicht um drei Akzente ergänzt werden (II.).

I.

I.1. Es gilt, realistisch zu akzeptieren, dass die Zeit der Volkskirche im quantitativen Sinne vorbei ist

Während frühere Zukunftspapiere ein „Wachsen gegen den Trend“ beschworen, geht die „Lobbyistin“ nüchtern davon aus, dass der Trend gegen die selbstverständliche Kirchenmitgliedschaft anhält und sich potenziert und dass Kirche gut daran tut, das zu akzeptieren.

Dieser Realismus nimmt eine immense Last von den Schultern der kirchlichen Mitarbeitenden. Der Auftrag, einen gesellschaftlichen Megatrend bei zurückgehenden Ressourcen umzukehren, führte in den letzten 15 Jahren viele Pfarrer:innen und andere Haupt- und Ehrenamtliche in frustrierende Dauerbelastung, tiefe Erschöpfung und ein Gefühl der eigenen Erfolglosigkeit.

Kirche ist verwundbar und verletzlich geworden. Kirchliche Mitarbeitende machen seit Jahren Erfahrungen der persönlichen Kränkung, wenn ihre Arbeitsgebiete, obwohl erfolgreich und leidenschaftlich ausgefüllt, einem der vielen Einsparprozesse zum Opfer fallen. Es ist meines Erachtens sehr wichtig, die persönliche Lebensleistung von dem Schrumpfungsprozess der Kirche abzulösen und diesen nicht den heute handelnden Gemeindemenschen anzulasten. Das Kleiner-Werden der Kirche ist im Kern kein Performance-Problem. Die „Lobbyistin“ nimmt die neue Minderheitensituation der Kirchen an und als theologische Aufgabe ernst.

I.2. Es ist die bleibende Aufgabe der Kirche, sich „an alles Volk“ zu wenden

In der Bergpredigt sagt Jesus seinen Zuhörerinnen und Zuhörern zu: „Ihr seid das Salz der Erde, ihr seid das Licht der Welt.“ (Mt 5, 13.14) „Unabhängig davon, wie viele sie sind, würzen und erhellen sie die ganze Wirklichkeit. (…) Ohne jeden Appell, vor jedem Tun und Anspruch wirken die, die Jesus zuhören und glauben, in der Welt und auf die Welt ein und ist Gottes Reich wirksam in der Welt und verändert sie.“ (5)

Christenmenschen sollen – und wollen – ihre radikale Hoffnung auf die Auferstehung, auf die Befreiung von den Todesmächten, die alle innerweltlichen Möglichkeiten übersteigt, in der Welt weitererzählen und die Welt mit ihr beeinflussen. Dieser Auftrag ändert sich nicht, wenn die Zahl der Kirchenmitglieder kleiner wird. Wohl aber ändert sich das Auftreten einer kleiner werdenden Kirche. Sie kann, so meine ich, der säkularen Gesellschaft ihre Botschaft nicht besserwisserisch vom moralischen hohen Ross herab um die Ohren hauen, sondern nur freundlich anbieten. Als „Lobbyistin“ öffnet die Kirche eine „Lobby“ für Gottes Mission in der Welt.

I.3. Wir brauchen neue Leitbilder des kirchlichen Handelns in der Öffentlichkeit, die sowohl Dominanzverzicht als auch die bleibende Sendung an die Welt deutlich machen

Dabei meint „Dominanzverzicht“ die positive Annahme der Tatsache, dass die Kirche die Gesellschaft mit ihren Themen und Positionen nicht mehr dominieren kann. Die „Lobbyistin“ beklagt das nicht, sondern akzeptiert das. Ich persönlich begrüße das sogar, denn ich bin der Meinung, dass die Einschränkung kirchlicher Bestimmungsmacht ihr dazu verholfen hat und noch hilft, sich von ihrer eigenen Gewalt- und Repressionsgeschichte zu lösen.

Die vorgeschlagenen Leitbilder sind die der Lobbyistin der Gottoffenheit, der Teamplayerin und der Agentin des Wandels. Sicher gibt es mehr und vielleicht gibt es bessere, aber mit diesen dreien kann die Suche nach tragenden Vorstellungen gut beginnen.

Lobbyistin der Gottoffenheit ist eine Kirche, die in der offenen Gesellschaft für den offenen Himmel wirbt. Sie tritt dafür ein, dass die neugierige Frage nach Gott und Gottes Gnade und Liebe auch in einer säkularen Gesellschaft noch gestellt und nicht vorschnell beantwortet wird. Dabei geht es bei Gottoffenheit weder um die Behauptung einer anthropologischen Konstante noch um die Reduktion des Christusglaubens auf eine vage Gottfrömmigkeit. Kirche wird auch nicht Lobbyistin in eigener Sache. Es geht schlicht darum, in der Gesellschaft Lobbyarbeit für die Sache Gottes zu machen, damit weltanschauliche Neutralität nicht mit Religionslosigkeit verwechselt wird.

Teamplayerin ist eine Kirche, die bündnisfähig wie bündnisbedürftig geworden ist, um ihrer Botschaft Gehör zu verschaffen. Sie sucht und findet für die Dinge, die ihr Herzensanliegen sind, dauerhafte und wechselnde Bündnispartner. Das können andere Kirchen, Religionsgemeinschaften, zivilgesellschaftliche Akteure etc. sein. Theologisch unverzichtbar und anspruchsvoll ist jeweils die Klärung, welche Bündnisse möglich sind und welche die Kirche dazu bringen würden, ihr Eigenes zu verraten.

Agentin des Wandels ist eine Kirche, die für sich selbst veränderungsbereit ist und in der Gesellschaft Mut zu Transformationen macht. Dabei geht es um exemplarische Projekte und nicht um eine Rolle als Vorbild. Die „Agentin“ ist manchmal als verlängerter Arm grüner Politik missverstanden worden. Die Kraft, in der oft erschreckenden und entmutigenden Gegenwart nicht müde zu werden, fließt aber nicht aus (partei)politischen oder moralischen Einstellungen, sondern aus Gottes Versprechen eines neuen Himmels und einer neuen Erde.

Diese drei Leitbilder können eine geistlich profilierte, netzwerk-orientierte und reformbereite Kirche umreißen[1]. Ich persönlich finde es spannend, diese Leitbilder von dem paulinischen Dreiklang von Glaube, Liebe und Hoffnung her weiter zu entfalten: So trägt die Lobbyistin den orientierenden Glauben an die durch Jesus Christus geschehene Versöhnung in die Diskussionen dieser Zeit, die Teamplayerin agiert aus verbindlicher Liebe heraus verbindend in der gesamten Gesellschaft und die Agentin des Wandels schöpft Kraft und Mut für tiefgreifende Veränderungen der Welt, wie wir sie kennen, aus der radikalen christlichen Hoffnung, und jede bedarf der anderen. Die vorgeschlagenen Leitbilder wiederholen den Dreiklang von Glaube, Liebe und Hoffnung für unsere Zeit.

I.4. Auch eine kleiner werdende Kirche ist zu öffentlicher Rede und zu öffentlichem Handeln im öffentlichen Raum aufgerufen

Weil alle Menschen in die Gemeinschaft mit Jesus Christus eingeladen sind, sind die Kirchen berufen, diese Einladung öffentlich und offen weiterzusagen.

Weil der Staat den Kirchen als Körperschaften öffentlichen Rechtes große Möglichkeiten des Handelns eröffnet, können sie ihre Botschaft und ihre Haltung auch Menschen gegenüber sichtbar werden lassen, die nicht zur Kirche gehören oder nur losen Kontakt zu Kirche haben.

Diese bisher selbstverständlich gewährten öffentlichen Räume werden zunehmend hinterfragt. Eingespielte Traditionen geraten von zwei Seiten unter Veränderungsdruck: von der Pluralisierung der Religionen und von derSäkularisierung her. Wie können Kirchen damit umgehen, ohne in ein ständiges Rückzugsgefecht verwickelt zu werden? Immer wieder gelingen Bündnisse, wenn die Kirchen es fertigbringen, den Nutzen der öffentlichen Präsenz von Religion für die ganze Gesellschaft aufzuzeigen. Sowohl VertreterInnen nichtchristlicher Religionen als auch säkularisierte Milieus reagieren jedoch empfindlich, wenn sie den Eindruck haben, die großen Kirchen verteidigten bloß ihre Privilegien. Auch in diesem Bereich hängt darum viel an der Haltung und dem Auftreten der Kirche: Kann sie bestimmt und bescheiden so reden, dass ihre Botschaft inhaltlich deutlich christlich profiliert und als freundliche Einladung gehört wird? Kann sie mit dem Verlust von Möglichkeiten, mit der Notwendigkeit, ehemals selbstverständliche Aufgabenbereiche zu lassen so umgehen, dass sie sich konkret und vielleicht vorübergehend bietende Chancen trotzdem ohne Bitterkeit ergreift?

Wichtig ist mir ein doppeltes: Orte öffentlichen Redens und Räume öffentlichen Handelns nicht ohne Not aufzugeben – und flexibel, angemessen trauernd und ohne Gekränktheit damit umzugehen, wenn sie sich schließen.

Die „Lobbyistin“ hält die Ambivalenz und Unsicherheit der Übergangszeit zwischen Volkskirche und der noch unklaren kommenden Gestalt von Kirche aus.

I.5. Die Kirche hält auch den bloß begrenzten Erfolg ihrer Reformprozesse und ihr eigenes Leiden an ihrer Veränderungsunfähigkeit aus, und bemüht sich doch um einen Paradigmenwechsel ihrer Veränderungskultur

Die kirchlichen Veränderungsprozesse müssen weg von der Maßgabe, so viel wie möglich zu erhalten, und hin zu dem Impuls, das zu stärken, was Keim einer veränderten Kirche sein könnte. Hier darf und muss alles, was sie als Institution, Organisation und Bewegung ausmacht, auf den Prüfstand: z.B. Kirchtumsgrenzen, das Steuerprivileg, das kirchliche Dienstrecht und der Beamtenstatus, die kirchlichen Gesetze und Behördenstrukturen, der Schatz organisierter ideologischer Weite und die Last verknöcherter Formen. Vieles davon sind Generationenaufgaben, die vernünftig und abgestimmt angepackt gehören. Wir sollten nicht warten, bis wir gezwungen werden. Es wird Zeit, dass Kirche das alles angeht.

Sie tut das ohne Angst um sich selbst. Denn sie darf auf das Wirken des Heiligen Geistes vertrauen. Wo ihr das gelingt, kann Kirche ihr Schrumpfen wie ihre Verletzlichkeit annehmen und trotzdem ihrem Auftrag folgen: in der Welt von Gottes Wirken, seiner Liebe und Gnade zu erzählen und aus dem Glauben an dieses Wirken und diese Liebe und Gnade heraus zu handeln. Wo sie das tut, wird sie für die Welt zur Lobbyistin der Gottoffenheit.

II.

Der Impulstext ist vor zweieinhalb bis drei Jahren geschrieben worden. Seit dieser Zeit prägte die Corona-Pandemie länger als erwartet unser Leben. Seit dieser Zeit begann der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Seit dieser Zeit machten Inflation, eine Energiekrise und zunehmend Respektlosigkeit und Gewalt gegenüber Vertreter:innen staatlicher Institutionen vielen Menschen Angst.

Seit dieser Zeit schlidderte meine evangelische Kirche in eine Krise der Gottesdienste: die Besucherzahlen sanken gegenüber der Zeit vor Corona deutlich; aber auch die agendarischen Formen verloren dramatisch an Plausibilität. In dieser Zeit mache ich die Erfahrung, dass ich in der Stadt mehr als Moderatorin des Religiösen denn als Christin gesehen werde. Mit dem Großprojekt unseres Kirchenkreises, KIRCHEnMORGEN, realisieren wir, dass wir nur noch sehr begrenzt mobilisieren können.

Aus meiner persönlichen Sicht und Erfahrung möchte ich daraus erwachsend drei Akzente anfügen, die die „Lobbyistin-Theologie“ weiterführen.

II.1. Die offene Gesellschaft und der offene Himmel – oder: Demokratie braucht Religion

Lobbyistin der Gottoffenheit, so habe ich oben gesagt, ist eine Kirche, die in der offenen Gesellschaft für den offenen Himmel wirbt. Dabei meint der offene Himmel theologisch nicht einfach die religiöse Fortsetzung der oft beschworenen Integrations- und Akzeptanzbereitschaft einer hoch individualisierten Gesellschaft durch eine Vorstellung Gottes, die sich in seiner Liebe und der bedingungslosen Annahme aller Individuen in ihrer Besonderheit erschöpft. Die Gesellschaft ist – theologisch gesehen – als innerlich brüchiges, nach außen in sich geschlossenes Ganzes „ohne Fenster gegen das Himmelreich“[2]. Will sagen: Von der Erde aus führt kein Weg ins Reich Gottes.

Es ist gerade andersherum: Vom Reich Gottes her fällt Licht auf die Lage der Erde. Das Reich Gottes entwirft eine Zukunft für uns, die sich die Welt bzw. die Gesellschaft nicht selbst geben kann. Diese Zukunft ist bestimmt durch die transformierende Menschenfreundlichkeit Gottes und die Verwandlung der Schöpfung in etwas Neues. Dort – in der Zukunft des Reiches Gottes – herrschen Gottes Gebot und Gottes Gerechtigkeit; dort werden alle Tränen abgewischt und die Verhältnisse zurechtgerückt; dort ist Freude über alle Sünder:innen, die Buße tun und umkehren; dort wird die Versöhnung der Verschiedenheiten wirklich. Dort ist ‚Offenheit‘ mehr als die freundliche oder gleichgültige Duldung der Andersheit jedes ‚Jecken‘ – nämlich die Zusammengehörigkeit aller durch Jesu Tod und Auferstehung Erlösten in der Gemeinschaft der Heiligen. Dort geht es nicht um das individuelle So-sein, sondern um das kollektive Verwandelt-sein. Der Glaube an das so offene Reich Gottes kann das irdische Verständnis von ‚Offenheit‘ durch ein ihm bisher fehlendes visionäres Element der Verbundenheit inspirieren.

Wenn Kirche in der Gesellschaft Lobbyistin der Gottoffenheit ist, wird sie aus diesem Glauben heraus dafür werben, offen zu bleiben für dieses Licht aus dem offenen Himmel, das die Erde erleuchtet, und die orientierende Kraft dieses Glaubens in die Diskussionen dieser Zeit tragen.

Der Soziologe Hartmut Rosa erläutert in der Rede „Demokratie braucht Religion“, dass und warum demokratische Gesellschaften sich einen Sinn dafür bewahren müssen, was es heißt, „sich anrufen zu lassen, sich transformieren zu lassen, in Resonanz zu stehen“ (74). Ich stimme ihm darin zu, dass wir, wenn wir diese Beziehungsmöglichkeit verlieren, die Fliehkräfte nicht mehr werden bändigen können. Darum soll m.E. die Kirche als Lobbyistin stark machen, dass und wo sie gebraucht wird – auch, wenn das nicht dazu führt, eine christliche Gesellschaft wiedererstehen zu lassen.

Zwei Beispiele, worum es da gehen kann: Einerseits darum, die positive Religionsfreiheit zu entfalten. Warum das? Gesellschaftlich wird oft die negative Religionsfreiheit betont als Recht des bzw. der Einzelnen, sich jedem religiösen Zwang zu entziehen. Damit erscheint Religiosität zunehmend als individuelles Merkmal der Einzelperson und Privatsache. Die positive Religionsfreiheit aber umfasst neben dem persönlichen Recht, eine Religion zu wählen und zu haben auch deren öffentliche Ausübung. Religion darf und kann in Deutschland also öffentlich werden. Eine Kirche, die Lobbyistin der Gottoffenheit ist, wird diese Möglichkeiten ergreifen und öffentliche Rede dazu nutzen, auch inhaltlich zu beschreiben, was das Evangelium auch noch dieser Zeit an froher Botschaft und konkreter Vision zu geben hat. Ich denke an öffentliche Gebete etwa bei Stadtfesten und christlich-theologische Inhalte bei Gedenktagen und sonstigen Anlässen. Das ist mehr als eine formale Proklamation des Rechtes auf auch religiöse Verschiedenheit. Es ist eine Form öffentlicher Verkündigung, die wir der Gesellschaft nicht schuldig bleiben dürfen.

Als zweites Beispiel nehme ich den konfessionellen Religionsunterricht. Mit der sinkenden Zahl an Kirchenmitgliedern gerät er zunehmend unter Druck als ein nicht mehr zeitgemäßes Vorrecht, das Partikularinteressen privilegiere. Aber: Der Religionsunterricht bietet die Möglichkeit, Religiosität nicht im abstrahierten Überblick, sondern ihrer eigenen inneren Bewegung nach als eine verbindliche Haltung verstehen zu lernen und so in religiösen Dingen urteilsfähig zu werden. Außerdem leistet dieser Unterricht viel für eine hermeneutische und ethische Grundbildung. Damit meine ich, dass oft nur der Religionsunterricht eine Brücke schlägt zwischen kindlichem und erwachsenem Umgang mit (religiösen) Geschichten und Autoritäten. Will sagen: Während Kinder Geschichten einfach glauben, brauchen Jugendliche und Erwachsene Unterweisung über die verschiedenen Perspektiven von richtig und falsch, wahr und plausibel, orientierend und irreführend. Während Kinder Erwachsene brauchen, die sie mit Anweisungen erziehen, müssen Jugendliche lernen, selbst Risiken und Nebenwirkungen ihres Tuns zu einzuschätzen und ihr Handeln danach auszurichten. Religiöse und ethische Werteorientierung als innere Haltung kommt nicht von selbst, sondern muss gelernt werden – auch unabhängig von der eigenen Überzeugung.

II.2. Zeitfenster nutzen und Verbündete suchen – oder: ein Plädoyer für Pop-Up-Aktionen und Staffelformate

Teamplayerin ist eine Kirche, die für die Dinge, die ihr Herzensanliegen sind, dauerhafte und wechselnde Bündnispartner sucht und findet. Sie agiert aus verbindlicher Liebe zu den Menschen heraus und macht möglich, was möglich zu machen ist. Kirche tut sich doppelt schwer mit der Notwendigkeit, Teamplayerin zu werden: einerseits sind die meisten Gemeinden noch immer sehr auf sich bezogen, so dass sie selbst mit Nachbargemeinden ungern gemeinsame Sache machen, und andererseits erfordert die nötige Klarheit der eigenen Sache bei der Suche nach geeigneten Teammitgliedern eine theologische Anstrengung, die vielen Gemeinden lästig ist. Aus meiner Sicht erwächst der Kirche ein Qualitätsproblem durch zu langes Festhalten an nicht mehr funktionierenden Formen! Oben habe ich gesagt, dass das Kleiner-Werden der Kirche im Kern kein Performance-Problem ist. Daran halte ich fest. Aber im Kleiner-Werden entsteht in der Kirche ein Performance-Problem, wo an bestimmten Formen festgehalten wird, weil sie eben immer so waren, auch wenn die Zahl der Teilnehmenden längst unter eine kritische Größe gefallen ist. Dann müssen die Akteur:innen sich fragen: Übertönt die stumme Aussage: Wir sind der Rest! schon alles, was ich sonst sagen will? Übertönt die kalte und zu große Kirche meine Botschaft von Gottes Liebe und der Gemeinschaft in der Gemeinde? Übertönt die abständige Sprache meine Beteuerung der Aktualität der Bibel? Das Bild der Kirche als Teamplayerin klingt von den drei vorgeschlagenen Bildern am leichtesten umsetzbar, ist aber am schwierigsten realisierbar.

Dabei entscheidet sich voraussichtlich an der Teamfähigkeit von Kirche, ob sie sich im Kleiner-Werden auf sich selbst und in die Kirchenmauern zurückzieht und sich als Zuschauerin neben den Lauf der Welt[3] stellt, wo sie sich doch an ihrem „bestimmten Platz in diesen Lauf hineinzustellen“[4] hat. Auch eine kleinere Kirche ist Salz und Licht der Welt, auch eine kleinere Kirche ist mit ihrer Botschaft an alles Volk und nicht nur ihre Mitglieder gewiesen, auch eine kleinere und kleine Kirche behält den Auftrag zur Nächstenliebe in Wort und Tat.

Die ‚Unterscheidung der Geister‘ bei der Suche nach Verbündeten oder Partnerorganisationen ist nicht einfach, aber um dieser Liebe willen nötig. Die Evangelien verhehlen die Schwierigkeit nicht: „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“ (Mk 9,40) und „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich“ (Mt 12,30) stehen nebeneinander und müssen je angewandt und ausgelegt werden.

Hier – statt eines Beispiels – zwei Vorschläge: Zum einen kann die Kirche von anderen Veranstaltern lernen. Sie kann Staffelformate von Fernsehserien kopieren, (kirchen)jahreszeitliche Angebote wiederentdecken, größere Inszenierungen wie Martinszüge und Nikolaussingen gemeinsam mit städtischen Akteuren und Vereinen gestalten und aus der Werbebranche Pop-Up-Formate entlehnen. Ich plädiere dafür, im regionalen Zusammenhang und möglichst ökumenisch zeitlich bestimmte Versuchsphasen auszurufen, in denen sich alle Gemeinden und Arbeitsgebiete – in gemischten Teams und aktiv auf Partner:innen außerhalb der Kirche zugehend – von ihrer Lust und Phantasie leiten lassen und ausprobieren, um dann gemeinsam auszuwerten, was ankommt und wiederholt werden will. Dazu ist es freilich nötig, zuvor die Dienstpläne so zu entrümpeln, dass Haupt- wie Ehrenamtliche Zeit für Experimente haben; wünschenswert wäre ein ganzer wöchentlicher ‚Labor’-Arbeitstag.

Der zweite Vorschlag richtet sich auf die inhaltliche Frage, worum es gehen muss, wenn evangelische Kirche sich beteiligen können will. Ich meine, Gemeinden werden nicht umhinkommen, sich mehr als bisher über Kerninhalte ihrer Arbeit zu verständigen. Man muss keinen neuen Katechismus entwerfen, aber ein halbes Dutzend Sätze über Gehalt und Grenzen des christlichen Verständnisses vom Menschen und von der Schöpfung, über die Bibel, ihre Botschaft von Gott und dem Reich Gottes, über Schuld, Sünde und Verantwortung, geschenkte Versöhnung durch Jesu Kreuzestod und Auferweckung, ein gläubiges Leben und die Rolle von Geboten, die Begrenztheit des Lebens und die Hoffnung über den Tod hinaus und auf endliche Erlösung der ganzen Welt würden weiterhelfen. Will sagen: Christliches Basiswissen kann innerhalb und außerhalb der Gemeinden nicht mehr vorausgesetzt werden; es neu, übersichtlich und wiedererkennbar unters – interessierte – Volk zu bringen, tut not.

II.3. Evangelium und Gebot – oder: die evangelische Kirche ist keine moralische Anstalt

Agentin des Wandels schließlich ist eine Kirche, die für sich selbst veränderungsbereit ist und in der Gesellschaft Mut zu Transformationen macht. Quelle der Kraft dazu ist die radikale Hoffnung auf die Nähe und Wirksamkeit des Reiches Gottes, das Vertrauen auf Gottes geschenkte Gnade und damit auf seine neuschaffende Macht. Zeichen dieser veränderungsbereiten Kirche sind die in den offenen Himmel weisenden Kirchtürme, die daran erinnern, von wo her Rettung erwartet werden darf.

Kirche als Agentin oder Akteurin des Wandels steht aber in der Gefahr, zu einer moralischen Anstalt zu werden und die notwendende Veränderung nicht von Gott zu erhoffen, sondern selbst ins Werk setzen zu wollen. Darum steht hier statt eines Beispiels oder Vorschlags eine Warnung: Die verständliche Enttäuschung über die Erfolglosigkeit bisheriger Transformationsprozesse führt leicht dazu, verbindliche Gesetzlichkeit als Regel oder Kampagne zu proklamieren und damit die eigene bessere Gerechtigkeit zu behaupten. Allerdings führt das in Teufels Küche: die Folge ist meist Erfolglosigkeit – weil zu wenige der Kirchenmenschen mitmachen; dann Beschämung – derer, die das Mitmachen nicht durchhalten oder Gründe haben, es gar nicht erst zu versuchen; und drittens Spott von außen ob der kirchlichen Überheblichkeit. M.E. führt die Versuchung moralischer Appelle an die Einzelnen zu einem ‚verrückten‘ Verständnis des Gesetzes: In der Frage nach ‚richtigem‘ Handeln etwa zur Klimagerechtigkeit geht es im Blick auf die einzelnen Menschen nicht um eine überführende Funktion der Gebote. Dieses Thema gehört in den Bereich ihrer politischen Anwendung – und erfordert damit konsistente politische Regeln, die in der Summe größere Klimagerechtigkeit befördern und in deren Rahmen sich Individuen bewegen können, ohne einander Vorwürfe zu machen. Alle Aktion der Kirche folgt dem bewahrenden Handeln Gottes und stellt sich mit seiner Verbindlichkeit in dessen Dienst – das mag illusorisch klingen, ist aber ur-evangelisch: wie die Rechtfertigung der Sünder:innen ist die Rettung der Welt Gottes Sache und Gottes Geschenk an uns, dem wir Christenmenschen dankbar entsprechen und entsprechen sollen.

Ich komme zum Schluss, und versuche einen zusammenfassenden Satz: Lobbyistin-Theologie ist öffentliche Theologie, die bescheiden und bestimmt dem jesuanischen Zuspruch folgt, Salz und Licht der Welt zu sein; die den Glauben an Gottes Gnade, die Liebe zu allen Menschen und die Hoffnung auf die Zukunft der Welt im Reich Gottes auf die städtischen Plätze und in die öffentlichen Räume trägt; und die so für die Gestaltung der Gesellschaft unserer Zeit verbindliche Mitverantwortung übernimmt.


[1] so E.K.i.R. 2030, Seite 4, Anm. 3

[2] So Karl Barth im „Tambacher Vortrag“ von 1919.

[3] So Karl Barth im „Tambacher Vortrag“.

[4] Ebd.