Gottedienst in der Sommerferienpredigtreihe „Bücher des Lebens“ der Evangelischen Kirchengemeinde Wald
Herzlich willkommen!
Herzlich willkommen zum sechsten Gottesdienst der Sommerferienpredigtreihe „Bücher des Lebens“, den wir beginnen im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Unsere Hilfe und unser Anfang stehen im Namen des Herrn der Himmel und Erde gemacht hat, der Bund und Treue ewig hält und der nicht preisgibt das Werk seiner Hände. Amen.
Was ist ein „Buch des Lebens“, wenn heute die Antwort mal nicht „Die Bibel“ ist? Für mich ist es ein Buch, das ich immer mal wieder lese, in verschiedenen Lebensaltern und Lebensphasen. Ein Buch, das mich beim Lesen immer wieder anders und neu berührt und anspricht. Ein Buch schließlich, das mir einen Spiegel vorhält, das mich herausfordert, in dem ich etwas für mich und mein Leben erkenne. So ein Buch ist für mich „Buddenbrooks. Verfall einer Familie“ von Thomas Mann. Und so geht es heute um die „Buddenbrooks“!
Aber zunächst singen wir: Lied: EG 444, 1-5 Die güldene Sonne
Lesung
Wir lernen die Familie Buddenbrook im Jahre 1835 kennen, gerade ist sie in das repräsentative Haus an der Mengstraße gezogen. Das erste Kapitel beginnt so:
„Was ist das. – Was – ist das …“
„Je, den Düwel ook, C´est la question, ma très chère demoiselle!“
Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weißlackierten und mit einem Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt.
„Tony!“ sagte sie, „ich glaube, dass mich Gott …“
Und die kleine Antonie, achtjährig und zart gebaut, in einem Kleidchen aus ganz leichter changierender Seide, den hübschen Blondkopf ein wenig vom Gesichte des Großvaters abgewandt, blickte aus ihren graublauen Augen angestrengt nachdenkend und ohne etwas zu sehen ins Zimmer hinein, wiederholte noch einmal: „Was ist das“, sprach darauf langsam: „Ich glaube, dass mich Gott“, fügte, während ihr Gesicht sich aufklärte, rasch hinzu: „geschaffen hat samt allen Kreaturen“, war plötzlich auf glatte Bahn geraten und schnurrte nun, glückstrahlend und unaufhaltsam, den ganzen Artikel daher, getreu nach dem Katechismus, wie er soeben, Anno 1835, unter Genehmigung eines hohen und wohlweisen Senates, neu revidiert herausgegeben war. Wenn man im Gange war, dachte sie, war es ein Gefühl, wie wenn man im Winter auf dem kleinen Handschlitten mit den Brüdern den Jerusalemsberg hinunterfuhr: es vergingen einem geradezu die Gedanken dabei, und man konnte nicht einhalten, wenn man auch wollte.“ (9)
Es ist ein Stück aus dem Kleinen Katechismus Luthers, mit dem das Buch öffnet. Lassen Sie uns einstimmen und auch unseren Gottesdienst damit eröffnen:
Bekenntnis EG 855.2 / Seite 1316
Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.
Was ist das?
Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seel, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was not tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin.
Das ist gewisslich wahr.
Gitarrenstück
Großer Gott, zu dir kommen wir, heute, an diesem Sommerferiensonntag, um nachzudenken, um uns den Spiegel vorhalten zu lassen, um dein Wort zu hören.
Wir haben etwas mehr Zeit im Sommer und so kommen Gedanken an die Oberfläche, die sonst keinen Raum finden Gedanken darüber, ob wir im richtigen Leben stecken, ob wir tun, was in unserer Zeit getan werden muss, was wir versäumt oder falsch gemacht haben, wo wir geschwiegen haben, wenn wir hätten reden sollen, wo wir uns müde haben treiben lassen, wenn wir beherzt hätten zupacken sollen.
Sieh du dir an, was wir bringen. Hör dir an, was wir dir sagen. Rate uns, was wir tun sollen. Erbarm dich über uns!
Gemeinde: Herre Gott erbarme dich, Christe erbarme dich, Herre Gott erbarme dich
Zusage der Liebe Gottes (aus Jes. 40, 28-30)
Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt den Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Gemeinde: Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen
Leseerfahrungen mit den Buddenbrooks
Die Buddenbrooks sind eine erfundene Kaufmannsfamilie. Ansässig in der alten Hansestadt Lübeck geht es mit ihnen über drei Generationen hinweg aufs Schönste hinauf, zu Rang, Einfluss und Ansehen, bis der bürgerliche Erfolg unter der Ägide von Tonys Bruder Thomas Buddenbrook seinen Höhepunkt und fast gleichzeitig sein Ende findet.
Der Untertitel des Buches „Verfall einer Familie“ nimmt genau das vorweg, wer zu lesen beginnt, weiß also, dass es kein Happy End gibt, und doch hoffe ich bei jedem Lesen neu, dass es nicht so kommt oder dass mir Zeichen, Hinweise im Text auffallen, dass es irgendwie doch anders zu verstehen ist.
Als ich das Buch zum ersten Mal las, irgendwann in den Oberstufenjahren als Schülerin, habe ich mich ganz mit Tony identifiziert. Antonie ist ganz Patriziertochter – standesbewusst, ein klein wenig hochmütig, dabei freundlich und vorwitzig. Sie wird vom Vater früh in eine ausgesprochen angemessen scheinende Ehe gedrängt und heiratet den Hamburger Kaufmann Bendix Grünlich. In kurzer Zeit stellt sich jedoch heraus, dass der im Grunde schon bankrott ist und sich nur mit Tonys Mitgift noch eine Weile halten kann. Als seine Firma zusammenbricht, kehrt Tony mit der kleinen Tochter zurück ins Elternhaus. Ich habe mich über dieses Schicksal beim ersten Lesen ungeheuer geärgert – wie konnte der Vater seine Tochter an den Erstbesten verscherbeln? – und ich habe am Rest des Buches die Lust verloren und es zu Ende gelesen, ohne viel zu verstehen.
Beim Wiederlesen in meinen Studienjahren ging meine Leserinnen-Sympathie auf Thomas über, Tonys Bruder, der nach dem Tod des Vaters recht früh die ehrwürdige Firma übernimmt. Aber nicht der Firmenchef interessierte mich damals. Sondern der Mensch Thomas, der, anders als seine Vorväter, nicht einfach selbstverständlich sein Tagwerk tut, sondern nachdenklich den vorgezeichneten Weg in Frage stellt. So wie ich auch meinen Weg immer wieder in Frage stellte. Und ich fand es herzzerreißend beim Lesen, wie er trotz allen äußeren Erfolgs scheitert.
Wenn Sie das Buch nie gelesen haben, knüpfen Sie vielleicht hier an: bei Thomas, der einmal sagt: „Mir ist, als ob mir etwas zu entschlüpfen begönne, als ob ich dieses Unbestimmte nicht mehr so fest in Händen hielte wie ehemals“ (430) und fortfährt: „Ich weiß, dass oft die äußeren, sichtbarlichen und greifbaren Zeichen und Symbole des Glücks und Aufstieges erst erscheinen, wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts geht.“ (431) Ich meine, und vielleicht stimmen Sie mir zu, dass das ein Gefühl unserer Zeit und auch unserer Kirche ist: dass uns etwas kaum zu Beschreibendes entschlüpft und verlorengeht, und dass eine innere Verunsicherung entsteht, derer wir nicht Herr werden.
Ein weiteres Mal habe ich das Buch gelesen, da war ich so alt wie Thomas Buddenbrook, als er starb, an einem entzündeten Zahn.
Da tat es mir gar nicht gut. Vielleicht können Sie nachvollziehen, warum: es kam mir zu nah, schien mich in sich hineinzuziehen und nicht nur eine nachdenklich machende Geschichte zu sein, sondern auch mich und meine „Firma“, die Kirche, zu meinen.
Und dann habe ich es in diesem Sommer wieder gelesen, auf diesen Gottesdienst hin. Damit ich Ihnen davon erzählen kann und gleichzeitig fragen, was das Buch für uns an Durchblicken auf Gott und unsere Welt hin bieten kann.
Aber lassen Sie uns erst einmal wieder singen:
Lied: EG 503, 1.2.8.13 Geh aus, mein Herz
Guter Gott, öffne unsere Augen, Ohren und Sinne, dass wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Gib uns Verstand, unsere Wahrnehmung zu deuten und in Zusammenhänge zu setzen und unsere Zeit zu begreifen. Gib uns Weisheit, das Begriffene im Blick auf Menschlichkeit und Barmherzigkeit zu beurteilen. Gib uns Mut, unserem Urteil gemäß zu handeln und für deine Gnade einzustehen. Amen.
Bibellesung
Für die Lesung habe ich das „Lob der tüchtigen Wirtschafterin“ aus dem Buch der Sprüche (31, 10-31) ausgesucht – weil darin etwas von dem Kaufmannsethos beschrieben wird, das auch die alten Hansestädte prägte. In den „Buddenbrooks“ heißt es: „Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, dass wir bey Nacht ruhig schlafen können.“ (58)
In den Sprüchen wird die Wirtschafterin besungen:
10Wem eine tüchtige Frau beschert ist, die ist viel edler als die köstlichsten Perlen. 11Ihres Mannes Herz darf sich auf sie verlassen, und Nahrung wird ihm nicht mangeln. 12Sie tut ihm Liebes und kein Leid ihr Leben lang. 13Sie geht mit Wolle und Flachs um und arbeitet gerne mit ihren Händen. 14Sie ist wie ein Kaufmannsschiff; ihre Nahrung bringt sie von ferne. 15Sie steht vor Tage auf und gibt Speise ihrem Hause und den Mägden ihr Teil. 16Sie trachtet nach einem Acker und kauft ihn und pflanzt einen Weinberg vom Ertrag ihrer Hände. 17Sie gürtet ihre Lenden mit Kraft und macht ihre Arme stark. 18Sie merkt, wie ihr Handel Gewinn bringt; ihr Licht verlischt des Nachts nicht. 19Sie streckt ihre Hand nach dem Rocken, und ihre Finger fassen die Spindel.
20Sie breitet ihre Hände aus zu dem Armen und reicht ihre Hand dem Bedürftigen. 21Sie fürchtet für die Ihren nicht den Schnee; denn ihr ganzes Haus hat wollene Kleider. 22Sie macht sich selbst Decken; feine Leinwand und Purpur ist ihr Kleid. 23Ihr Mann ist bekannt in den Toren, wenn er sitzt bei den Ältesten des Landes. 24Sie macht einen Rock und verkauft ihn, einen Gürtel gibt sie dem Händler. 25Kraft und Würde sind ihr Gewand, und sie lacht des kommenden Tages. 26Sie tut ihren Mund auf mit Weisheit, und auf ihrer Zunge ist gütige Weisung. 27Sie schaut, wie es in ihrem Hause zugeht, und isst ihr Brot nicht mit Faulheit. 28Ihre Söhne stehen auf und preisen sie, ihr Mann lobt sie: 29»Es sind wohl viele tüchtige Töchter, du aber übertriffst sie alle.« 30Lieblich und schön sein ist nichts; eine Frau, die den Herrn fürchtet, soll man loben. 31Gebt ihr von den Früchten ihrer Hände, und ihre Werke sollen sie loben in den Toren!
Halleluja! Gebt ihr von den Früchten ihrer Hände! Halleluja
Gemeinde: Halleluja
Lied: EG 497, 1-4 Ich weiß mein Gott, dass all mein Tun
Predigt
Liebe Gemeinde!
Die Buddenbrooks haben eine dicke Ledermappe, in der sie wichtige Papiere aufheben und darin ein mit Goldschnitt verziertes Heft, in dem wichtige Stationen aus der Familiengeschichte aufgeschrieben werden. Immer wieder im Buch lesen wir mit darin.
Wir lesen von außerordentlichen wirtschaftlichen Erfolgen, von Hochzeiten und Geburten, Krankheiten und überstandenen Unwettern. Und immer, wenn ein Familienmitglied etwas Neues hineinschreibt, blättert er oder sie gedankenverloren zurück und vergegenwärtigt sich die honorige und erfolgreiche Geschichte, die mit einem Gewandschneider in Rostock, der sich schon sehr gut gestanden habe, begann und zu Stand und Wesen und dem Sitz im Senat der Stadt Lübeck geführt hat.
Der Generation von Tony und Thomas, von denen ich Ihnen schon erzählt habe, ist die Familiengeschichte Stolz und Auftrag.
In unserer Zeit haben vielleicht alte Fotoalben diese Funktion übernommen, zu erinnern, woher man kommt und was die eigenen Anfänge geprägt hat. In Familien und auch in Kirchengemeinden entstehen so Chroniken, die Wurzeln schaffen, aber auch nach neuen Trieben verlangen: sie sind uns Stolz und Auftrag. Und solange Triebe wachsen und die Stammbäume sich weiter verzweigen, ist auch alles gut. Aber wenn die Triebe mickrig werden und Äste absterben, wird die Geschichte zur Last und zur Frage, was denn wert ist, was war, und was bleibt, wenn nichts Großes, Neues mehr kommt.
Unter dieser Last zerbrechen Thomas Buddenbrook und sein sensibler Sohn Hanno. Hanno fehlt ganz das zupackende Wesen seiner Verfahren, er ist verträumt, musisch und hat eine große empathische Begabung, die ihn verstehen lässt, was den anderen in der Familie bloß unbegreiflich ist. Und so nimmt Hanno irgendwann einmal das Goldschnittheft zur Hand und zieht sorgfältig mit dem Lineal einen Schlussstrich. Einen Schlussstrich unter die ganze über hundertjährige Familiengeschichte. Dem wütenden Vater antwortet er, zur Rede gestellt: Ich dachte, es würde nichts mehr kommen.
Uns als Kirche geht es ähnlich. Wir haben starke Wurzeln und einen beeindruckenden Stammbaum und – wenigstens zur Zeit – eher zarte und kleine Triebe. Noch verstehen wir nicht ganz, was mit uns geschieht, obwohl wir seit Jahrzehnten schon anpassen, gegensteuern und umstrukturieren. Von außen wird uns gesagt, dass da nichts mehr kommen wird. Ich erinnere mich an Zeitungsüberschriften aus dem Jahr des Reformationsjubiläums 2017: „Stilles Gedenken“ hieß es da, und: „Das letzte Fest“. Aber der Blick von außen versteht nicht wirklich, sieht nicht alles, und die eigentliche Frage ist, ob sich unter dem Weniger-werden und Schrumpfen etwas Neues anbahnt, eine andere Gestalt von Kirche, die dem alten Stammbaum als frischer Trieb aufgepfropft werden kann. „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden“ – heißt es im ersten Johannesbrief. Das heißt ja doch, dass da eine Erwartung ist, die noch nicht erschöpft ist, eine Erwartung, die wir selbst als Kirchenleute in uns tragen, auch, wenn sie von außen nicht sichtbar ist, eine Erwartung, die uns gesagt worden ist als Verheißung, dass es weitergeht mit uns. Ein neuer Zuspruch.
Zurück zu den Buddenbrooks. Ja, in der Geschichte von Abschwung und Auslaufen können wir etwas erkennen, das wir kennen, kirchlich, vielleicht auch persönlich, vielleicht gerade auch gesellschaftlich. Und von da aus können wir gespannt weiterfragen, ob da mehr zu erkennen ist.
Ich möchte eine Schlüsselepisode aus dem Buch erzählen: Tonys Freundin Armgard hat einen Gutsbesitzer geheiratet, der in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt, so arg, dass er gezwungen ist, die Ernte seines Gutes „auf dem Halm“ – also vor der Ernte – zu verkaufen, um seine Außenstände zu bezahlen. Tony, gerade von einem Besuch auf diesem Gut Pöppenrade bei Rostock zurück, bittet ihren Bruder Thomas inständig, der Gutsbesitzerfamilie zu helfen und die Ernte zu kaufen. Mit vielen, auch lauten Worten lehnt Thomas ab. Tony sagt: „Man begegnet einem Vorschlage nur dann mit Erregtheit, wenn man sich in seinem Widerstande nicht sicher fühlt.“ (469)
Am späten Abend, allein, kann Thomas dieses Gespräch nicht hinter sich lassen. Er grübelt. Und fragt sich selbst:
„War Thomas Buddenbrook ein Geschäftsmann, ein Mann der unbefangenen Tat – oder ein skrupulöser Nachdenker?
O ja, das war die Frage; das war von jeher, solange er denken konnte, seine Frage gewesen! Das Leben war hart, und das Geschäftsleben war in seinem rücksichtslosen und unsentimentalen Verlaufe ein Abbild des großen und ganzen Lebens. Stand Thomas Buddenbrook mit beiden Beinen fest wie seine Väter in diesem harten und praktischen Leben? Oft genug, von jeher, hatte er Ursache gehabt, daran zu zweifeln! Oft genug, von Jugend an, hatte er diesem Leben gegenüber sein Fühlen korrigieren müssen … Härte zufügen, Härte erleiden und es nicht als Härte, sondern als etwas Selbstverständliches empfinden – würde er das niemals vollständig erlernen?“ (469)
Was mich trifft, ist der Satz: „Oft genug (…) hatte er diesem Leben gegenüber sein Fühlen korrigieren müssen“ – sein Fühlen korrigieren müssen gegenüber einer vorgegebenen, verlangten, gesetzten Form von Leben! Konkret wird das im Roman, als er sich von seiner Jugendliebe, einem Ladenmädchen, trennt. Und noch einmal, als er seinem besten Freund anvertraut, dass er wohl gern zur Universität gegangen wäre, studiert hätte, statt schon mit sechzehn ins Kontor zu müssen. An diesen Seiten wird spürbar, wie unfrei Thomas Buddenbrook sich fühlt, wie gebunden durch den Stolz und Auftrag der Familie, der Stadt.
Wie anders ist es heute! Menschen brechen auf, stehen auf, emanzipieren sich, weil sie nicht mehr ihr Fühlen korrigieren wollen gegenüber einer vorgegebenen Form von Leben. Wir haben gestern „Klingenpride“ gefeiert in Solingen, den Stolz der queeren Leute auf ihr Fühlen und ihre Art zu sein, ihre Lust daran und die Freude darüber, in diesem Land die Freiheit dazu zu haben. Diese Offenheit und Freiheit haben wir erreicht, dafür haben wir gekämpft, aber natürlich gibt es auch die Mahnung, eine vorgegebene, gesetzte, bürgerlichere Form von Leben nicht lächerlich zu machen, nicht abzutun, weil sie eben für viele Menschen die richtige ist und Stabilität und Ordnung verspricht, die ins Rutschen gekommen sind bei uns.
Und wir merken, dass Thomas Buddenbrooks Frage, die ihm den Schlaf raubt, die Frage, ob er fest im harten, praktischen, bürgerlichen Leben steht, auf eine andere Art auch unsere Zeit beschäftigt, uns beschäftigt. Wir merken, dass mit dieser Frage eine ganze Menge der Probleme unserer Gesellschaft angesprochen sind: Folgen wir unserer Neigung oder dem, was die Vernunft uns zu tun empfiehlt?
Thomas Buddenbrook, am Morgen nach dieser besonderen Nacht, kündigt der Gutsfamilie seinen Besuch an und kauft die Pöppenrader Ernte, auf dem Halm, Ende Mai, weniger als halb reif.
Auch wenn Sie das Buch nie gelesen haben, wissen Sie jetzt schon, dass es schiefgeht.
Wenige Wochen später feiert man das einhunderste Firmenjubiläum. Alles jubiliert, die Sonne strahlt vom Himmel, die ganze Stadt gratuliert. Später kommt ein Telegramm aus Pöppenrade. Ein Gewitter hat es gegeben, Hagel.
Die Ernte ist vernichtet. Thomas Buddenbrook, in gewisser Weise, auch. Gescheitert beim Versuch, den Erfolg zu zwingen, sich zu zwingen.
Mit der Firma Buddenbrook geht es dann binnen weniger Jahre zu Ende. Und Thomas´ Frage, die Frage nach der Festigkeit, mit der man im Leben steht, und die Frage danach, ob man etwa zu viel Fühlen korrigieren muss, um einigermaßen zu funktionieren, und es dann nicht fertigzubringen, die bleibt.
Für uns.
In unserer Gesellschaft.
Für unsere Kirche.
Doch: Auch unsere Kirche hat ein oft mit Goldschnitt verziertes Buch. In dem wir manchmal gedankenverloren blättern, wenn etwas Besonderes geschieht und wir Worte suchen, die dem Geschehen entsprechen.
Unsere christliche Familiengeschichte. Die Bibel. Was wir in ihr lesen, ist aber nicht Stolz und Auftrag. Das schwingt auch mit, aber die Zuspitzung ist eine andere. Wir lesen von Zuspruch und Anspruch. Und das ist so viel gnädiger, so viel barmherziger, so versöhnlich gegenüber den Fragen danach, wie wir im Leben stehen.
Wir müssen nicht erst leisten, wir sind schon gerecht, geliebt, richtig. Wir müssen kein Fühlen korrigieren. Ja, auch wir haben dann einen Auftrag, einen Anspruch, auch wir sollen in der Welt wirken, sie gestalten, uns in ihr ausprobieren, anstrengen und bewähren. Daran können wir auch scheitern und bitter verzweifeln.
Aber der Ausgangspunkt, der Zuspruch, die bedingungslose Liebe Gottes, die macht den Unterschied.
Und diese Liebe lässt unter dem Schrumpfen der Kirche etwas Neues erahnen, einen neuen Trieb, der dem alten Baum aufgepfropft werden kann, einen neuen Aufbruch. Einen, den man von außen nicht sehen kann.
Amen.
Gitarrenstück
Lesung
Die „Buddenbrooks“ enden tröstlich – mit Worten der alten Lehrerin Tonys, Sesemi Weichbrodt. Die letzte Seite:
Tony Buddenbrook fließen die Tränen über die Wangen. „Tom, Vater, Großvater und die anderen alle! Wo sind sie hin? Man sieht sie nicht mehr. Ach, es ist hart und traurig!“
„Es gibt ein Widersehen“, sagte (ihre Cousine) Friederike Buddenbrook, wobei sie die Hände fest im Schoße zusammenlegte (…).
„Ja, so sagt man … ach, es gibt Stunden, Friederike, wo es kein Trost ist, Gott strafe mich, wo man irre wird an der Gerechtigkeit, an der Güte … an allem. Das Leben, wisst ihr, zerbricht so manches in uns, es lässt so manchen Glauben zuschanden werden … Ein Wiedersehen … wenn es so wäre … .“
Da aber kam Sesemi Weichbrodt am Tische in die Höhe (…). Sie stellte sich auf die Zehenspitzen (…). „Es ist so!“ sagte sie mit ihrer ganzen Kraft und blickte alle herausfordernd an.
Sie stand da, eine Siegerin in dem guten Streite, den sie während der Zeit ihres Lebens gegen die Anfechtungen von Seiten ihrer Lehrerinnenvernunft geführt hatte, bucklig, winzig und bebend vor Überzeugung, eine (…) begeisterte Prophetin.“ (758f)
Lied: EG 347, 1-4 Ach, bleib mit deiner Gnade
Abkündigungen
Fürbittengebet
Auf dich, Gott, vertrauen wir und wir rufen dich an!
Und wir bitten dich: Für die Kaufleute, Gastwirte und Unternehmerinnen, dass es ihnen gelingt, ihr Geschäft durch unsere schwierigen Zeiten zu steuern.
Für die, die wirtschaftlich aufgeben müssen und in die Insolvenz gehen, dass sie mit ihrem Geschäft nicht das Selbstwertgefühl verlieren.
Für die, die irgendwie im falschen Beruf oder Leben gelandet sind, dass sie es schaffen, neu anzufangen und dazu Weggefährt:innen finden.
Für die, die gemobbt und entmutigt werden, dass sie Rückenstärker und Mutmacherinnen finden.
Für die Kirche, dass sie die Kurve kriegt und ihr noch mal Neues gelingt.
Für uns, die wir hier sitzen, dass unsere Sorgen und Nöte gelindert und unsere Freude und Kraft gestärkt werden.
Für die Welt, dass sie begreift, dass sie samt allen Kreaturen in deiner Hand geborgen ist.
Wir bitten dich, lass uns der Barmherzigkeit, die du uns zusprichst, vertrauen und dem Anspruch, den du an uns stellst, folgen.
Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich, und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Lied: EG 503, 9.10.14 Geh aus mein Herr
Segen
Der Herr segne euch und behüte euch! Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig! Der Herr sehe euch freundlich an und gebe euch Frieden. Amen.
Musik zum Ausgang/Gitarre
Alle Zitate aus: Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Ausgabe S. Fischer Verlag 1960, 1974, Druck 1986 – Seitenzahlen im Text!