Vor Gott sind alle Menschen gleich viel wert, aber nicht gleich – und dürfen nicht gleichgeschaltet werden. Darum ist christliches Engagement gegen Rechtsextremismus geboten
I.
„Vor Gott sind alle Menschen gleich“ – dieser Satz steht nicht in der Bibel. Trotzdem ist er allgemein akzeptiert und leuchtet unmittelbar als Kern christlicher Botschaft sowie als Begrenzung weltlicher Ungleichheiten ein. Es wird zu klären sein, wie dieser Satz christlich zu verstehen ist. Aber auch ohne diese Klärung ist darin schon der Grund erkennbar für das Engagement von Christinnen und Christen gegen Ungleichheitsideologien wie den Rechtsextremismus.
Definitionen und Erscheinungsformen von Rechtsextremismus sind vielfältig, haben aber einige Elemente stets gemeinsam. So findet sich die Überzeugung, Menschen seien ungleich viel wert und sozial ungleich, verbunden mit einer Abgrenzung der eigenen Gruppe nach außen. Damit verbunden ist das Bemühen um Gleichschaltung und damit die Normierung und Homogenisierung der eigenen Gruppe nach innen. Ein Führerprinzip und damit ein autoritäres Staats- und Gesellschaftsverständnis stabilisiert diese Denkmuster und Ordnungsvorstellungen.
Diese Elemente widersprechen zutiefst der biblischen Botschaft. Die Bibel und die christliche Theologie setzen gegen jede Ideologie der Ungleichheit eine differenzierte Botschaft von der Gleichwertigkeit aller Menschen.
II.
Vor Gott sind alle Menschen gleichwertig. Die biblische Schöpfungsgeschichte berichtet: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib“ (1. Mose 1, 27, vgl. auch 1. Mose 5,2). „Mensch“ – das meint Frau und Mann in geschlechtlicher Unterschiedenheit, aber ohne Unterschied in der Gottesbeziehung. Auch die ausführlichere Erzählung in 2. Mose 4-25 lässt keinen Zweifel daran, dass es keine Wertverschiedenheit unter den Menschen gibt – erzählt wird von Mensch und Tier und dem Ende des Alleinseins durch die Teilung des ungeschlechtlichen Menschenwesens Adam in die Frau Eva und den Mann Adam. Die theologische Tradition sieht mit diesen Schöpfungsgeschichten die unverlierbare Würde jedes einzelnen Menschen in der Gottesbeziehung begründet. Alle soziale Ungleichheit gehört theologisch gesprochen nicht ins Paradies und damit in Gottes Schöpfungswillen, sondern in die geschichtliche, von Menschen gestaltete Welt, in der wir leben.
In dieser Welt der Ungleichheiten wird die Gleichwertigkeit der Schöpfungsbotschaft zum Auftrag: Die Gebote der hebräischen Bibel begrenzen Ungleichheiten durch Rechtsansprüche, die vor allem diejenigen schützen, die besonders von Ausgrenzung bedroht sind. Dem dienen zum Beispiel ethische Regelungen zum Sabbat (2. Mose 20, 8-11) und Jobeljahr (3. Mose 25, 1-10), zum Nachleserecht auf den Feldern (3. Mose 19, 9-10) und zur Leviratsehe (5. Mose 25, 5-6) sowie zum ausdrücklichen Schutz von Migranten (5. Mose 5,14, 3. Mose 19, 33-34).
Die Zusammenfassung der Weisungen im Gebot der Nächstenliebe (3. Mose 19, 18) – in der bekannten Luther-Übersetzung „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, wörtlich aber eher: „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du“ – lässt deutlich den Gedanken der Gleichwertigkeit erkennen und weist in der Deutung im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-37) ausdrücklich über die Grenzen von Familie und Nachbarschaft hinaus.
Der Zuspruch der Gottebenbildlichkeit und der Anspruch der Nächstenliebe fordern christliches Handeln heraus zur Anwaltschaft für alle, die von Ausgrenzung und Abwertung betroffen sind. Der Festschreibung des anderen auf seine Andersartigkeit und der grundsätzlichen Diskriminierung von Einzelnen oder Gruppen aufgrund von Nationalität, Hautfarbe, Geschlecht, religiöser Überzeugung oder sexueller Orientierung muss darum aus theologischen Gründen widersprochen werden. Die Abgrenzung nach außen, die rechtsextremen Ideologien eigen ist, widerspricht der Universalität der biblischen Botschaft.
III.
Vor Gott sind Unterschiede wichtig. Darum gehört zum christlichen Verständnis des Satzes „Vor Gott sind alle Menschen gleich“ auch die Einsicht, wann dieser Satz nicht gilt. Er wird falsch, wenn es nicht mehr um die Relativierung weltlicher Unterschiede sozialer oder moralischer Art geht, sondern wenn mit seiner Hilfe die Unterscheidungen der biblischen Geschichte nivelliert werden. Die Schöpfungsgeschichte, so haben wir gesehen, unterscheidet zwischen den Geschlechtern. Die Bundesgeschichte unterscheidet bleibend zwischen dem erwählten Volk Israel und der dazu erwählten Völkerwelt. Die Kritik der sozialen Verhältnisse weiß um die Unterschiede zwischen arm und reich. Jesus nimmt Menschen in ihrer Individualität wahr. Dass Menschen – wie biblisch bezeugt wird – gleich viel wert sind, heißt nicht, dass sie gleich sind. Vielmehr ist Gleichwertigkeit verbunden mit der konkreten Anerkennung und Akzeptanz von Differenzen. Menschen haben unterschiedliche Nationalitäten, Hautfarben, Geschlechter, stammen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen und haben individuelle Biografien. Einer abstrakten Gleichsetzung muss aus theologischen Gründen widersprochen werden. Die Gleichschaltung nach innen, die rechtsextremen Ideologien eigen ist, widerspricht der Partikularität der biblischen Botschaft.
IV.
Alle Menschen sind Gott gegenüber verantwortlich. Diese Verantwortung kann nach evangelischem Verständnis weder aberkannt noch abgegeben werden. Das Gewissen ist frei, aber kein Mensch ist frei von Gewissen. In der Konsequenz des protestantischen Gedankens des Priestertums aller Gläubigen liegt eine grundsätzliche Autoritätskritik, die staatliche Gewalt und staatlichen Einfluss begrenzt. Kriterium für diese Begrenzung ist die biblischen Unterscheidung „dessen, was des Kaisers ist“, von „dem, was Gottes ist“ (Matthäus 22, 21). Eine absolute Geltung politischer Ideologien und ein Führerprinzip sind mit der Freiheit der Gewissen darum nicht vereinbar.
Eine zweite Begrenzung ergibt sich aus dem Gedanken der Verantwortung der und des Einzelnen vor Gott: „Richtet nicht“, so heißt es im Matthäusevangelium (Matthäus 7,1), „damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Die Gottesbeziehung des Menschen entzieht ihn der Beurteilung durch seine Mitmenschen. Ob und wie ein Sein, ein Handeln, ein ganzes Leben zu beurteilen ist, ist nicht Sache von Menschen untereinander, sondern steht dem Schöpfer anheim. Die Sorge jedes Menschen mag sich auf das eigene Sein, Handeln und Leben richten – und sollte im Blick auf die anderen Zurückhaltung üben. Eine Verabsolutierung irdischer Autoritäten ist damit nicht vereinbar.
V.
Die vorhergehenden Abschnitte zeigten, dass weder die Vorstellung der Ungleichwertigkeit der Menschen, noch die soziale Gleichschaltung, noch die absolute Autorität eines Führers mit der biblischen Botschaft zu vereinbaren sind. Trotzdem waren Kirche und Theologie in der Vergangenheit nicht immun gegen die Verabsolutierung moralischer Autoritätsansprüche im eigenen Bereich und auch nicht gegen die Übernahme rechtsextremen Gedankengutes. Theologische Begründungen finden sich im Laufe der Jahrhunderte für Antisemitismus, für Sklaverei und Apartheid, für die Unterordnung der Frau unter den Mann, für autoritäre Staatsformen, für angemaßte absolute geistliche Autorität und die Unterdrückung von Gewissensfreiheit. Von selber, so muss heute eingestanden werden, erstreckt sich umfassende Nächstenliebe nicht auf wirklich alle Menschen. Zu stark sind oft die Wechselwirkungen zwischen theologischem und zeitgeistlichem Gedankengut.
Die selbstkritische Neuorientierung der evangelischen Theologie in Deutschland seit der Shoa und dem Ende des Zweiten Weltkriegs macht deutlich, dass es nicht nur auf das biblische Zeugnis, sondern auch auf den theologischen Umgang damit und die theologische Haltung dazu ankommt. Es gehört darum zur nie völlig erledigten Aufgabe der Reformation, Theologie und Kirche immer wieder neu an Gottes Wort auszurichten. Der Heidelberger Katechismus antwortet auf die Frage, was die Vaterunser-Bitte „Dein Reich komme“ bedeute: „Damit beten wir: Regiere uns durch dein Wort und deinen Geist, dass wir dir je länger, je mehr gehorchen …“. Die Formulierung „je länger, je mehr“ bringt das reformatorische Selbstverständnis auch der Kirche auf den Punkt: Christinnen, Christen und die Kirche sind nicht Verwalter der Gnade Gottes auf Erden, sondern Empfänger dieser Gnade und ihrer bedürftig. Sie sind unterwegs, die Lebenskraft dieser Gnade je länger, je mehr zu begreifen und ihr je länger, je mehr zu entsprechen. Es ist dieses Selbstverständnis der Kirche „unter der Gnade“, das allen Ungleichheitsideologien widerspricht und auf grundsätzliche Urteile verzichtet.
VI.
Noch einmal muss der Satz „Vor Gott sind alle Menschen gleich“ in seinem richtigen Verständnis von einem falschen unterschieden werden: Er ist richtig, insofern er deutlich macht, dass alle Menschen, auch Christinnen und Christen und die ganze Kirche, Gottes Gnade brauchen und darum andere weder be- noch verurteilen sollen. Er ist falsch, wenn und sobald er dazu führt, alles Tun und alle politische Einstellung für gleich gültig zu erklären. Der reformierte Gedanke der Heiligung, auch er in der Formulierung „je länger, je mehr“ auf den Punkt gebracht, verlangt nach der Unterscheidung von mehr und weniger dem biblischen Zeugnis entsprechenden Überzeugungen und Verhaltensweisen. Heiligung bedeutet, gerade im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit und Gnadenbedürftigkeit deutlich und mutig Stellung zu beziehen gegen jede Partei und Ideologie, die das Urteil über Wert und Würde von Menschen und Menschengruppen für sich selbst beansprucht. Und Heiligung bedeutet, ebenso deutlich und mutig Stellung zu beziehen für jede Überzeugung und Gruppierung, die sich dafür einsetzt, Wert und Würde aller Menschen und Menschengruppen so wirksam zu schützen, dass Gottes Ehre nicht durch Verbrechen an seinen Geschöpfen gekränkt wird.
VII.
Rechtsextreme Ideologien bieten Zugehörigkeit und Orientierung, indem sie alles, was außerhalb der eigenen Nation oder des eigenen Milieus ist, abwerten und kategorisch ausschließen, und gleichzeitig alles, was innerhalb der eigenen Gruppe zu sein oder zu geschehen hat, vereinheitlichen und normieren. Ihr Bestreben dient der Exklusion. Christliche Gemeinden sind eine Gegenkultur zu solchen Entwürfen: Sie verstehen die Grenzen nach außen als offen und durchlässig, und sie sind nach innen sensibel für Unterschiede und Differenzen. Ihr Bestreben ist es, Exklusion zu überwinden und Inklusion zu ermöglichen, denn Gottes Gnade gilt allen.
Erstveröffentlichung in: debatte, das Themenheft zum Mitreden, Heft 3, Januar 2014 „Rechtsextremismus: Nicht mit uns!“, herausgegeben von der Evangelischen Kirche im Rheinland, Seiten 26-29