1. „Steh auf und tritt in die Mitte“ sagt Jesus. Denn am Sabbat war ein Mann mit einer verdorrten Hand in der Synagoge. Eigentlich darf man am Sabbat nicht heilen, dass wissen alle, die da sind, und natürlich auch Jesus. Keiner sagte etwas. Jesus blickte sie zornig an. Er war traurig, dass sie so unbarmherzig waren. Zu dem Mann sagt er: „Strecke deine Hand aus!“ – Er streckte die Hand aus und sie wurde geheilt. Jesu Feinde beschließen: Er muss sterben.
2. Die Schriftgelehrten und Pharisäer bringen eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte. Sie sagen zu Jesus: Lehrer, diese Frau wurde auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt. Im Gesetz schreibt uns Mose vor, eine solche Frau zu steinigen. Jesus schreibt mit dem Finger in den Sand. Als sie nicht aufhören, zu fragen, richtet er sich auf und sagt zu ihnen: „Wer von euch ohne Schuld ist, soll den ersten Stein auf sie werfen.“ Nach und nach gehen alle weg. Kein Stein wird geworfen. Da sagt Jesus zu der Frau: „Ich verurteile dich nicht. Geh! Aber tue von jetzt an kein Unrecht mehr.“
1. Steh auf und tritt in die Mitte.
2. Sie stellten sie in die Mitte.
3. Zachäus steht nicht in der Mitte. Aber er will Jesus sehen. Also klettert er auf einen Baum. Genau bei dem Baum bleibt Jesus stehen. Jetzt ist der Baum die Mitte. Jesus guckt zu Zachäus hoch und sagt: „Steig schnell herab, ich muss heute in deinem Haus Gast sein.“ Die Leute murren. Sie wäre gern die Mitte gewesen. Aber Jesus geht zu Zachäus. Der sagt: „Ich werde die Hälfte von meinem Besitz den Armen geben. Und wem ich zu viel abgenommen habe, dem werde ich es vielfach zurückzahlen.“
2. Aber tue von jetzt an kein Unrecht mehr.
3. Ich werde die Hälfte von meinem Besitz den Armen geben.
2. Sie stellten sie in die Mitte.
1. Steh auf und tritt in die Mitte.
3. Ich muss heute in deinem Hause Gast sein.
4. Jesus zieht durch Samaria. Die Juden und die Samariter vermeiden jeden Umgang miteinander. Die Samariter sind am Rand. Jesus ist müde und macht am Jakobsbrunnen Rast. Da kommt eine Samariterin, um Wasser zu schöpfen. Jesus bittet sie: „Gib mir etwas zu trinken.“ Sie sagt: „Du bist ein Jude und ich bin eine Samariterin. Wie kannst du mich um etwas zu trinken bitten?“ Jesus sagt: „Wer von dem Wasser hier trinkt, bekommt wieder Durst. Aber wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, wird nie wieder Durst haben. Denn das Wasser, das ich ihm geben, wird in ihm zu einer Quelle: Ihr Wasser fließt und fließt – bis ins ewige Leben. Zuerst versteht die Frau nicht. Dann bittet sie ihn: „Herr, gib mir dieses Wasser. Dann habe ich nie mehr Durst und muss nicht mehr herkommen, um Wasser zu schöpfen.“ Und sie sagt: „Ich weiß, dass der Messias kommt. Man nennt ihn auch Christus.“ Jesus antwortete: „Ich bin es. Ich, der mit dir spricht.“
1. Steh auf und tritt in die Mitte!
3. Ich muss heute in deinem Hause Gast sein.
1. Steh auf und tritt in die Mitte.
4. Die Frau sagt: Ich weiß, dass der Messias kommt. Jesus sagt: Ich bin es.
1. Die Hand wurde geheilt.
2. Ich verurteile dich nicht.
4. Wer das Wasser trinkt, das Jesus gibt, bekommt nie wieder Durst.
3. Ich muss heute in deinem Hause Gast sein.
1. Jesus sagt: Steh auf und tritt in die Mitte!
4. Jesus sagt: Ich bin es!
1.,2.,3.,4.: Wir sind hier, bei dir, in der Mitte!
(Textcollage aus: Zachäus (aus Lk 19,1-10) / Ehebrecherin (aus Joh. 8, 1-11)/ Samariterin am Brunnen (aus Joh 4, 1-25)/ Mann mit der verdorrten Hand (aus Mk 3, 1-6))
Liebe Gemeinde!
Es gab eine Zeit, da dachten die Menschen, die Erde sei die Mitte des Universums, die Mitte von allem. Lange dachten sie das.
Und dann kam Nikolaus Kopernikus und stieß dieses Denken vom Sockel und machte allen klar, dass die Erde – und damit auch sie – um die Sonne kreisten, dass sie nicht die Mitte waren, sondern am Rand.
Das war irgendwann im 16. Jahrhundert.
Nur wenige Jahre vorher lehrte an einer noch jungen Universität am Rande der Zivilisation ein noch junger Mönch die römische Weltkirche das Fürchten und seine Anhänger:innen das Vertrauen auf Gottes Gnade. Mit dieser Lehre Martin Luthers entstanden die evangelische Kirchenfamilie und der heutige Reformationstag, und Wittenberg rückte für eine Weile in die Mitte der Weltgeschichte. Das Mittelalter ging spürbar zu Ende, und mit ihm die Gewissheit darüber, dass Rom und die katholische Kirche die Mitte der Welt und die Erde die Mitte des Weltalls seien. Die Neuzeit begann, und damit war die Frage nach Mitte und Rand völlig offen.
Nun konnte sich jedermann als Nabel der Welt fühlen und die anderen nach Belieben an den vermeintlichen Rand schieben. Und: Die Männer – und später auch die Frauen – hatten nicht mehr einen zugewiesenen Ort zum Leben, sondern wurden beweglich und eigenwillig und suchten sich selbst ihren Platz. Was Mitte war und was Rand kam völlig durcheinander.
Und dieses Durcheinander hatte Folgen: Auf einmal war die Mitte kein Ort mehr, sondern wurde zum Inbegriff des Bürgerlichen. Und der Rand wurde zur Zone von Ausgrenzung und – Diakonie. Denn: Wer nicht in der Mitte war, wich nun von der Norm ab – war nicht woanders, sondern anders. Und wer anders ist braucht meistens Hilfe. Darum: Der Rand wurde zum Ort von Ausgrenzung und Diakonie.
Und mit beidem, mit der Frage nach Ausgrenzung und nach diakonischem Handeln kommen wir zu dem, von dem die Lesungen vorhin erzählten, zu Jesus, zu dem, der mit Mitte und Rand umgehen konnte. Weil er selbst die Mitte ist, in einer höchst beweglichen Weise.
Und so durchbricht er die Kreise und erlöst die, die in die Mitte gestellt und ins Unrecht gesetzt werden wie die Frau, die sich einen Geliebten nahm: Ich verurteile dich nicht. Tue von jetzt an kein Unrecht mehr. So holt er den ins Zentrum, der durch seine Krankheit an den Rand und auf den Boden gedrängt wird: Steh auf und tritt in die Mitte. So holt er Zachäus vom Baum und geht ihn besuchen: Ich muss heute in deinem Hause Gast sein! Und so gibt er sich der Samariterin, der Fremden, der Falschgläubigen jenseits der Grenze zu erkennen als der, der selbst die Mitte, der Christus ist: Ich bin es!
Jesus. Der vom Rand kommt und nicht aus Rom und nicht mal aus Jerusalem. Der Grenzgänger ist und aus den Begegnungen jenseits der Grenzen lernt. Der Kinder in die Mitte stellt und Kranke aufrichtet, der groß macht und heilt. Jesus. Der nichts darauf gibt, ob jemand Mittelschicht und Mainstream ist oder nicht. Der das Herz ansieht und nicht die schicken Klamotten oder die dicken Oberschenkel. Der am Rand aufkreuzt und wo er am wenigsten erwartet wird und der mit den Vorstellungen der Leute bricht, ohne sie bloßzustellen.
Dem wir nachfolgen wollen.
Auf dem Weg an die Ränder, an die Ränder der Städte und an die Grenzen des Anstands. Auf dem Weg zu denen, die sich schüchtern nicht in die Mitte trauen oder die in unserer komplexen Welt Zuflucht nehmen zu extrem randständigen Meinungen. Um Gemeinschaft zu haben mit denen, die durch alle Raster fallen und denen, die sich für den Nabel der Welt halten. Auf dem Weg durch die ganze Welt und Wirklichkeit.
Ihm wollen wir nachfolgen und am Rand aufkreuzen. Wo auch immer uns das hinführt, was auch immer uns das einbrockt.
Denn das eine ist klar: Wer mit Jesus Rand und Mitte durcheinanderbringt, kann sich selbst nicht heraushalten. Wird mit Leuten gesehen, die keinen guten Ruf haben und setzt sich Missverständnissen aus. Wer mit Jesus sein will, kann nicht zugucken und bloß ein bisschen Geld spenden; er – oder sie – wird mitten hineingezogen die große Liebe Gottes.
Hineingezogen als die, die wir sind. Da, wo wir sind. Es gibt keinen Ort, an dem Jesus nicht mal auftaucht. Aber es gibt welche, an denen er nicht bleibt. Und von denen er uns wegholt. So wie die Ehebrecherin aus dem Kreis ihrer Ankläger und Anschwärzer – er erbarmt sich ihrer, aber er verlangt, dass sie sich ändert und sich treuer wird. Und ihrem Mann. Er gibt aber auch ihren Verfolgern und selbsternannten Richtern die Chance, ihre Steine, die sie gerade werfen wollten, fallen zu lassen und nachdenklich und still wegzugehen und ihre Selbstgerechtigkeit zu durchschauen und aufzugeben. Wir heute, wir sind beides, manchmal das eine, manchmal das andere. Manchmal die Angestarrten, Bloßgestellten, in die Mitte gezerrt und erbarmungslos kritisiert, verleumdet, verurteilt. Das sind wir, die unter uns, die auffallen, durch ihre Herkunft, durch ihre Sprache, durch ihre Armut, durch ihre Meinungen und ihren Glauben, durch ihre Art, zu lieben und zu sein. Das sind wir, die unter uns, die nicht untertauchen können in der Menge und es doch so gerne würden, die, deren Identität sie besonders macht und auffällig. Um die legt Jesus seinen Arm und führt sie aus dem Scheinwerferlicht hinaus in den Schatten, ins Private, und beschützt sie vor beleidigenden Blicken, Worten und Taten. Nicht immer sagt er dann zu uns und zu ihnen: Weiter so! Aber immer sagt er: Ich verurteile dich nicht!
Und manchmal sind wir die Ankläger, die Richterinnen, die, die böse sind, weil sie es sein können, die, die herabsetzen und verurteilen, vom moralischen hohen Ross oder vom Lehrerpult oder der Kanzel herab, ja, manchmal sind wir die, und werfen anderen ihr So-Sein vor, ihr Geflohensein oder ihre Armut, ihre Hautfarbe oder ihre Abstammung, ihre Fehler oder ihre Vorlieben. Und dann wollen wir Steine werfen, weil es so gut tut, die identifiziert zu haben, die falsch sind und am Rand und die Schuld sind und die nur verschwinden müssen, dann wird alles wieder wie früher. Dann wollen wir Steine werfen auf andere, weil wir uns sicher fühlen, indem wir sie verfolgen und verfemen, weil wir doch richtig werden und wertvoll dadurch, dass wir sie für falsch und minderwertig erklären. Und wenn wir so sind, und wir alle sind auch mal so, dass sollten wir uns eingestehen, so ehrlich sollten wir sein – und wenn wir so sind, dann nimmt uns Jesus bei der Hand und zieht uns weg von dem Ort unseres Hasses und redet uns ins Gewissen und macht unzweifelhaft klar, dass er uns liebt, aber dass er aus tiefstem Herzen hasst, was wir da gedacht und gewollt haben und dass wir uns ändern müssen, aufhören, Täter zu sein und Täterinnen. Dann sagt er: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Und dann lassen wir die Steine fallen und die anderen Waffen auch und gehen beschämt fort, fort von unserem Hass, aber nicht von seiner Gnade.
Und wir erkennen: Er ist die Mitte, aber so, dass keiner und keine an den Rand gedrängt wird, und es ist für uns schwer, das zu akzeptieren, weil wir doch irgendwo tief innen noch glauben, wir oder zumindest unsere Erde oder wenigstens unsere Kirche sei die Mitte von allem und unsere Perspektive die einzig Richtige, aber er lässt uns das nicht durchgehen, die Rückfälle, und wir hören ihn leise sagen: Tue von jetzt an kein Unrecht mehr.
Dass die Erde nicht der Mittelpunkt ist und dass vor allem wir es nicht sind, das ist nicht nur eine astronomische Erkenntnis dieses Nikolaus Kopernikus, das ist auch eine geistliche Erkenntnis derer, die Gott suchen und von Jesus gefunden werden. Wer mit Jesus im Bunde ist, muss ihn die Mitte sein lassen. Aber dafür darf er – oder sie – erleben, wie der Rand der Welt oder der Stadt oder der Gesellschaft der Ort wird, an dem die Gnade Gottes hell aufstrahlt. Und dann ist es egal, ob wir von Wittenberg reden oder von Widdert.
Amen.